Wolfsherz
ging, so daß sie sein erschrockenes Zusammenzucken nicht bemerkte. Irgendwie schien sie es aber doch registriert zu haben, denn sie sah zu ihm hoch, und er beeilte sich, übertrieben den Kopf zu schütteln. »Nein.«
»Irgend so ein Wahnsinniger hat in der Tiefgarage eine Frau überfallen und halb totgeprügelt«, sagte Marion. »Das muß man sich einmal vorstellen: am hellichten Tage und praktisch in aller Öffentlichkeit. Diese Typen schrecken doch vor nichts mehr zurück.«
»Hat man ihn erwischt?« fragte Stefan.
Marion verneinte und zog eine Grimasse. »Nein, ich glaube nicht. Diese Kerle werden doch nie erwischt. Wahrscheinlich muß er erst jemanden umbringen, bevor sie wirklich anfangen, ihn zu suchen.« Sie schwieg einige Sekunden, dann sah sie erneut und mit einem fast verlegen wirkenden Lächeln zu ihm hoch und sagte: »Ehrlich gesagt, war ich richtig froh, Sie noch zu treffen. Ich meine, solange dieser Bursche vielleicht noch hier herumschleicht...«
»Ich weiß, was Sie meinen«, sagte Stefan. »Aber ich glaube nicht, daß Sie Grund haben, sich zu fürchten. Diese Kerle schlagen im allgemeinen zu und verschwinden auf Nimmerwiedersehen.«
»Sie klingen, als hätten Sie Erfahrung mit so etwas«, sagte Marion. »Sie sind Journalist, richtig?«
»Fotograf«, verbesserte sie Stefan. »Aber normalerweise fotografiere ich Staatsempfänge und so aufregende Dinge wie die Einweihung einer neuen
Autobahnbrücke oder die Eröffnung einer Kunstausstellung. Aber ich weiß trotzdem, was Sie meinen. Wir wohnen nicht weit vom Bahnhofsviertel entfernt. Ich gehe selbst nach Dunkelwerden ungern auf die Straße.« Seine Worte erzielten die erhoffte Wirkung, denn Marion wirkte deutlich erleichtert. Daß er selbst eingestand, diese Furcht nachempfinden zu können, machte ihn in ihren Augen offensichtlich zu einem Verbündeten in dieser grauen Welt unter der Erde.
Trotzdem legten sie den Rest des Weges schweigend zurück, und Marion atmete erleichtert auf, als sie endlich die Tür am jenseitigen Ende des Korridors erreichten und Augenblicke später in den Lift traten. Stefan erkannte ihn. Es war der Aufzug, den er schon mehrmals benutzt hatte, wenn er in die Intensivstation der Kinderklinik hinauffuhr, um das Mädchen - Eva, verbesserte er sich in Gedanken - zu besuchen.
Der Lift war weitaus kleiner als die Kabine, mit der sie am anderen Ende des Krankenhausgeländes nach unten gefahren waren, so daß es Schwester Marion nicht möglich war, wieder einen entsprechenden Abstand zwischen sich und ihn zu bringen. Trotzdem versuchte sie es, auch wenn sie sich der Bewegung wahrscheinlich nicht einmal bewußt war. Stefan war klar, daß sie ihm gerade viel mehr über sich erzählt hatte, als sie ihm hatte sagen wollen.
»Sie sollten vielleicht wirklich einmal mit Ihrer Frau reden.« Marion wechselte nicht nur das Thema, sondern auch die Stimmlage und ihre ganze Art zu reden. »Doktor Krohn ist eigentlich ein sehr geduldiger Mann, aber er wird allmählich wirklich zornig. Ihre Frau begreift anscheinend nicht, daß sie wirklich krank ist.«
»Ich weiß«, sagte Stefan betrübt. »Und selbst wenn sie es wüßte, würde sie es nicht zugeben.«
»Das ist sehr unvernünftig«, antwortete Marion, jetzt wieder in ihrer Rolle als Krankenschwester und Pflegerin. »Wenn sie sich nicht schont und weiter darauf besteht, den halben Tag im Rollstuhl herumzufahren, statt im Bett zu liegen, dann wird sie noch ein paar Wochen hier verbringen müssen.«
»Ist es so schlimm?« fragte Stefan.
»Ich bin zwar keine Ärztin«, antwortete Marion, »aber ich denke, ja. Ihre Frau spricht wohl nicht sehr gut auf die Medikamente an.«
Das hatte Stefan nicht gemeint. Natürlich wußte er, daß Rebecca immer wieder die Kinderstation aufsuchte, aber er hatte plötzlich das Gefühl, daß sie sehr viel mehr Zeit dort verbracht hatte, als er ahnte. »Wie oft ist sie denn hier?« fragte er.
Der Aufzug hielt an, und sie traten auf den Flur hinaus, bevor Marion antwortete: »Zu oft. Ich allein habe sie fünf- oder sechsmal abgeholt, und ich bin nicht jeden Tag im Dienst.« Sie schüttelte den Kopf. »Doktor Krohn hat ihr schon zweimal den Rollstuhl wegnehmen lassen, aber irgendwie schafft sie es immer wieder.«
»Ich werde mit ihr reden«, versprach Stefan.
»Tun Sie das«, sagte Marion. »Aber verraten Sie ihr nicht, daß ich Sie darum gebeten habe.«
Stefan gab ihr dieses Versprechen mit einem Kopfnicken und einem Lächeln, aber die Worte der Schwester
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