Wolfsherz
»Keine Angst. Er versteht kein Wort unserer Sprache.«
»Sind Sie sicher?«
»ja. Und selbst wenn... es spielt keine Rolle. Sie verachten uns sowieso.« »Ich dachte, sie respektieren uns?« fragte Rebecca.
»Das eine schließt das andere nicht aus«, behauptete Wissler. Er wandte sich wieder im Sitz um und zündete sich mit einiger Mühe eine Zigarette an. Es war deutlich, daß er nicht weiterreden wollte. Wahrscheinlich, dachte Stefan, war es auch besser so. Seine Worte klangen ziemlich markig, aber Stefan war mittlerweile sicher, daß sie allesamt aus einschlägigen Romanen und Actionfilmen stammten. Kein sehr beruhigender Gedanke, bei einem Mann, dem sie ihr Leben anvertraut hatten.
Sie fuhren mittlerweile einen schmalen Waldweg entlang, und es war dunkel genug, um ihre Umgebung in einen schwarzen Tunnel ohne Konturen oder Grenzen zu verwandeln. Stefan hätte gerne auf die Uhr gesehen, aber dazu hätte er den Handschuh ausziehen müssen, was ihm viel zu mühevoll erschien. Außerdem... wozu? Er konnte vielleicht die Entfernung schätzen, aber nicht die Richtung, in die sie fuhren. Selbst wenn sie sich nicht im Wald aufgehalten hätten, hätte er das nicht gekonnt. Der Himmel war vor einer Woche hinter einer kompakten Wolkendecke verschwunden, aus der es abwechselnd regnete und schneite, und seither nicht wieder aufgetaucht. Darüber hinaus bezweifelte Stefan, daß auch nur irgendeine der Straßen, die sie in den letzten Tagen befahren hatten, auf einer Karte verzeichnet war.
Er schätzte, daß sie seit einer guten Viertelstunde unterwegs waren, bis sich der Wald endlich wieder lichtete. Die Bäume traten beiderseits des Weges zurück, und vor ihnen lag ein karstiger, fast unbewachsener Hügel. Die beiden Jeeps quälten sich eine Straße hinauf, die im Grunde keine war; Stefan vermutete, daß es sich um ein ausgetrocknetes Bachbett handelte, zumal auf halber Höhe die Böschung einfach verschwand und sich die Wagen schaukelnd und schnaufend ihren Weg zwischen herumliegenden Steinen und durch trockenes Gebüsch und heruntergefallene Aste bahnen mußten.
»Wohin bringen Sie uns?« fragte Rebecca. »Auf die Rückseite des Mondes?« Wissler lachte. »Eine ziemlich ungastliche Gegend, ich weiß. Aber Barkow hat darauf bestanden, daß wir diesen Weg nehmen.«
»Welchen Weg?« maulte Stefan. »Ich sehe keinen Weg.«
Die Wagen näherten sich der Hügelkuppe. Ihr Fahrer nahm ein wenig Gas weg, damit der zweite Jeep aufholen konnte, so daß sie das letzte Stück nebeneinander fuhren. Auf der Kuppe des Hügels hielten sie an und schalteten die Motoren aus, ließen die Scheinwerfer aber brennen.
Der Anblick verschlug Stefan die Sprache.
Der Hügel war kein Hügel, sondern ein Berg, der zusammen mit der Flanke eines zweiten Höhenzuges auf der gegenüberliegenden Seite die Begrenzung eines langgezogenen, sehr tiefen Tales bildete, das sich rechts und links vor ihnen in der Dunkelheit verlor. Der Talboden und der größte Teil des gegenüberliegenden Hanges waren dicht bewaldet, aber Stefan konnte hier und da ein silbernes Funkeln erkennen, vermutlich ein Fluß oder ein breiterer Bach, der sich seinen Weg durch das Tal hindurch gesucht hatte. Trotz - oder vielleicht auch gerade wegen -des schwachen Lichtes bot sich ihnen ein phantastisches Panorama: ein aus Schatten und Dunkelheit zusammengesetztes Bild, von dem etwas Düsteres, Uraltes auszugehen schien. Es war ein Gefühl, das Stefan kaum in Worte fassen konnte, zugleich aber auch so intensiv war, daß man es fast anfassen zu können schien.
»Was ist das?« fragte Rebecca.
»Die Einheimischen nennen es Wolfsherz«, antwortete Wissler. »Unheimlich, nicht? Ich war zwei- oder dreimal hier, aber mir geht es jedesmal wieder so: Man hat ständig das Gefühl, beobachtet zu werden. Als ob dort unten etwas ist.«
»Erwartet Barkow uns etwa hier?« fragte Rebecca. So, wie sie das sagte, schien ihr die Vorstellung Unbehagen zu bereiten. Stefan ebenfalls, wenn er ehrlich war. Es fiel ihm schwer, es zuzugeben, aber Wissler hatte ziemlich genau in Worte gefaßt, was er selbst beim Anblick des Tales gespürt hatte.
Der Österreicher schüttelte jedoch den Kopf und deutete auf den gegenüberliegenden Hügelkamm. »Dort drüben«, sagte er. »Aber wir müssen noch warten...«
»Worauf?«
Wissler seufzte. »Auf das Zeichen, weiterzufahren«, erklärte er. »Sie wollen sich davon überzeugen, daß wir auch wirklich allein gekommen sind. Was haben Sie erwartet? Barkow ist ein
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