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Wolfsherz

Wolfsherz

Titel: Wolfsherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Meinung nach?«
    »Über dieses
Land
«, antwortete Wissler betont. »Hat sich irgendeiner von Ihren Kollegen jemals die Mühe gemacht, mit offenen Augen durch dieses Land zu gehen?«
    »Ununterbrochen«, antwortete Stefan. »Hier gibt es mancherorts mehr Journalisten als Soldaten.«
    »Das meine ich nicht«, antwortete Wissler unwirsch. »Der Krieg zählt im Grunde nicht.«
    »Wie?« fragte Rebecca. Sie klang regelrecht empört, und Stefan begriff, daß Wissler sich ihren Zorn zugezogen hatte; auch wenn er mit Sicherheit selbst nicht einmal wußte, womit.
    »Sie wissen doch nicht einmal wirklich, worum es in diesem Krieg geht«, behauptete Wissler.
    »Das ist lächerlich!«
    »Es ist die Wahrheit«, sagte Wissler. »Das Problem ist nicht dieser sogenannte Bürgerkrieg. Die Serben gegen die Kroaten, die Kroaten gegen die Moslems, und alle zusammen abwechselnd gegen die NATO oder die Russen... wen interessiert das? Die meisten von den armen Schweinen, die darin ihr Leben verloren haben, wußten wahrscheinlich nicht einmal, wer sie umgebracht hat. Geschweige denn, warum.«
    »Aber Sie wissen es«, sagte Rebecca, mit dem bösesten Spott, den sie nur in ihre Stimme legen konnte.
    »Vielleicht besser als Sie«, antwortete Wissler ernst.
    »So? Und warum lassen Sie uns dann nicht an Ihrer großen Weisheit teilhaben?«
    Wissler schüttelte traurig den Kopf. »Ich fürchte, das hätte keinen Sinn«, sagte er. »Wenn man diese Frage stellen muß, kann man die Antwort wahrscheinlich nicht verstehen.«
    »Wie praktisch«, spottete Rebecca.
    »Sie sind seit zwei Wochen hier«, antwortete Wissler. »Hätten Sie sich in dieser Zeit einfach nur umgesehen, dann wüßten Sie, was ich Ihnen zu sagen versuche. Sie glauben, hier herrscht seit fünf Jahren Krieg? Das stimmt nicht. Er herrscht seit fünfzig Jahren, und vielleicht schon länger.«
    »Was ist denn das nun schon wieder für ein Unsinn?« fragte Rebecca.
    »Wir sind hier in der Herzegowina«, antwortete Wissler. »Bis vor ein paar Jahren hat es Jugoslawien geheißen, und davor Bosnien. Fahren Sie fünfzig Kilometer weiter, und Sie sind in Serbien, oder wie immer es die Verrückten nennen, die gerade darüber herrschen.«
    »Wir kennen die Geschichte dieses Landes«, unterbrach ihn Rebecca unwillig.
    »Es war ein Fehler, mit Gewalt einen künstlichen Staat schaffen zu wollen, aber -«
    »Und er ist es noch!« sagte Wissler erregt. »Die Situation wird sich nicht ändern, auch wenn dieser Krieg aufhören sollte. Nicht, solange die Welt nicht aufhört, sich in Dinge zu mischen, die sie nichts angeht. Sie können aus diesem Land hier keinen Staat machen, mit einer einheitlichen Regierung und Sprache ... all diese Dinge, die für Sie und mich richtig sein mögen, haben hier keinerlei Bedeutung. Die Menschen hier denken nicht so wie wir. Gehen Sie ins nächste Dorf, und Sie sind in einer anderen Welt, in der sogar eine andere Sprache gesprochen wird, deren Menschen eine eigene Geschichte haben, eigene Legenden...«
    »Ich verstehe«, sagte Rebecca spöttisch. »Sie meinen: mit Volldampf zurück ins Mittelalter. Vielleicht sollten wir die Zeiten der Stadtstaaten und autarker Königreiche wieder ausrufen.«
    »Vielleicht sollten wir versuchen, die Mentalität dieser Menschen hier zu verstehen«, antwortete Wissler. »Das hier ist nicht Frankfurt am Main oder Wien oder New York. Das hier ist der Balkan.«
    »Die Heimat von Graf Dracula, ich weiß«, sagte Rebecca höhnisch.
    »Es ist kein Zufall, daß solche Geschichten in
diesem
Teil der Welt spielen«, sagte Wissler ernst. »Wissen Sie - ich glaube, dass dieses Land etwas Besonderes ist. Etwas Einmaliges, das es auf der ganzen Welt vielleicht nicht noch einmal gibt. Vielleicht etwas Heiliges.«
    Aus dem Mund eines Mannes wie Wissler hätten diese Worte lächerlich klingen sollen, wenigstens komisch - aber das Gegenteil war der Fall. Stefan fühlte sich auf sonderbare Weise berührt, und auch Rebecca blieb die spöttische Bemerkung schuldig, die er eigentlich von ihr erwartet hatte.
    »Sehen Sie nur dieses Tal«, fuhr Wissler fort.
    »Wolfsherz?« fragte Rebecca.
    Wissler nickte. Er deutete in die Dunkelheit hinab, und obwohl Stefan dort unten nichts anderes erkennen konnte als Schwärze und ein unregelmäßiges silbriges Funkeln, hatte er beinahe Hemmungen, mit seinem Blick der Bewegung zu folgen. »Ich bin sicher, daß Sie es auf keiner Karte finden. Die Menschen hier in der Umgebung erzählen sich sonderbare Geschichten

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