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Wolfsherz

Wolfsherz

Titel: Wolfsherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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gehört, die sehr überzeugend klangen.«
    »Und sie sind auch wahr«, sagte Wahlberg, schüttelte aber gleichzeitig den Kopf. »Es stimmt schon, man hat tatsächlich zwei oder drei Kinder gefunden, die offensichtlich unter wilden Tieren aufgewachsen sind.«
    Dom nickte. »Ich habe davon gelesen. Es gab einen Fall in Frankreich vor ein paar Jahren, und einen weiteren in Rußland.«
    »Irgendwann in den Sechzigern«, bestätigte Professor Wahlberg. »Trotzdem ist es nicht so, wie es von den Medien gern dargestellt wird. Sie dürfen sich das nicht so vorstellen, daß sie einen Säugling im Wald aussetzen und er dann von Affen oder gar einem Wolf adoptiert und großgezogen wird.« Er deutete auf Eva. »Ein Kind in diesem Alter hätte keine Chance. Es würde jämmerlich verhungern.«
    »Und was ist mit den Kindern, die es geschafft haben?« beharrte Dom. »Die beiden Fälle, von denen Sie gerade selbst erzählt haben?«
    »Das war etwas anderes«, sagte Wahlberg noch einmal. Er schüttelte bekräftigend den Kopf. »Ich habe diese Fälle sehr gründlich studiert, glauben Sie mir. Gerade in den letzten beiden Wochen. Sie waren älter, als sie ausgesetzt wurden. Vielleicht nicht viel, aber alt genug, um aus eigener Kraft zu überleben.«
    »Unter wilden Tieren?« fragte Dorn zweifelnd. »Ein Kind von sechs oder sieben Jahren?«
    »Eines von vielleicht tausend«, sagte Wahlberg betont. »Bedenken Sie, es sind zwei verbürgte Fälle in dreißig Jahren. Übrigens ist eines der beiden Kinder nach kurzer Zeit gestorben, und das andere lebt meines Wissens nach heute noch in der geschlossenen Abteilung einer psychiatrischen Anstalt.«
    »Weil es nie gelernt hat, sich wie ein Mensch zu verhalten«, vermutete Dorn, aber Wahlberg schüttelte abermals den Kopf.
    »Weil es verlernt hat, sich wie ein Mensch zu benehmen. Sehen Sie... die Vorstellung, daß wilde Tiere ein hilfloses Menschenkind adoptieren und großziehen, ist zwar sehr romantisch, aber leider völlig abwegig. Im Normalfall würde ein solches Kind verhungern, in der ersten Nacht erfrieren oder schlimmstenfalls von einem Raubtier getötet werden. Dieser bedauernswerte Junge, den man in Rußland gefunden hat, hat es irgendwie geschafft, zu überleben, aber er hat dabei den Verstand verloren. Oder er war schon zuvor geistig behindert und wurde deshalb von seinen Eltern ausgesetzt. Als man ihn fand, war er ungefähr zwölf. Und er muß tatsächlich mehrere Jahre mit einem Wolfsrudel gelebt haben. Er hatte alles verlernt. Sprechen, aufrecht gehen... in gewissem Sinne ist er tatsächlich zu einem Wolf geworden. Aber nicht, weil er mit Wolfsmilch großgezogen worden ist, sondern weil er unter diesen Tieren gelebt und instinktiv versucht hat, sich ihrem Verhalten anzupassen. Und er hatte Glück, daß man ihn genau zu diesem Zeitpunkt gefunden hat.«
    »Wieso?« fragte Dorn.
    »Weil sie ihn vermutlich wenige Jahre später getötet hätten«, antwortete Wahlberg. »Ich bin kein Spezialist für das Verhalten von Wölfen, aber ich bin sicher, daß ihn früher oder später eines der anderen Tiere zu einem Machtkampf herausgefordert hätte. Er wäre gestorben, sobald er in die Pubertät gekommen wäre.«
    »Und jetzt ist er noch am Leben«, sagte Dom mit seltsamer Betonung. »Seit dreißig Jahren. In einem Irrenhaus.«
    Wahlberg blinzelte und wollte etwas darauf erwidern, aber Dom schnitt ihm mit einer Bewegung und einem entschuldigenden Lächeln das Wort ab. »Verzeihen
    Sie. Ich schweife ab.« Er räusperte sich, wandte sich dann mit einer fragenden Geste wieder an Stefan: »Wenn ich Sie richtig verstanden habe, sind sie also nicht mehr unbedingt der Meinung, daß dieses Kind von seinen Eltern ausgesetzt wurde.«
    »Ich bin überhaupt keiner Meinung«, antwortete Stefan. »Ich... weiß nicht, was passiert ist. Vielleicht wurde sie einfach von ihrer Familie getrennt, oder es gab einen Unfall, bei dem ihre Eltern ums Leben kamen.« Er zuckte mit den Achseln. »Wahrscheinlich werden wir es nie herausfinden.«
    »Es wäre klüger gewesen, sie nicht mitzubringen«, sagte Dom nachdenklich. »Warum haben Sie sie nicht den dortigen Behörden übergeben?«
    Stefan lachte. »Was für Behörden? Wir waren froh, daß wir lebend aus diesem gastlichen Land wieder herausgekommen sind. Sie haben anscheinend keine Ahnung, wie es im Moment dort zugeht.«
    »Ich dachte, der Krieg wäre vorbei«, sagte Dorn, und hinter Stefans Stirn begannen sämtliche Alarmsirenen zu schrillen. Er mußte sich gewaltsam

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