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Wolfsherz

Wolfsherz

Titel: Wolfsherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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belogen«, antwortete Wahlberg ausweichend. »Aber er muß auch nicht alles wissen. Am Ende taucht er beim nächsten Vollmond mit einem Priester und einer Pistole mit Silberkugeln hier auf und wartet darauf, daß sie sich in einen Werwolf verwandelt.«
    Hinter ihnen raschelte es. Stefan blickte sich um und sah, daß die Schwester die Zeitschrift hatte fallen lassen und sich jetzt hastig danach bückte. Ihre Bewegungen waren zu schnell und zu abgehackt, um ihre Nervosität zu verbergen, und sie gab sich deutliche Mühe, das Gesicht zur Seite zu drehen, so daß Wahlberg und er es nicht erkennen konnten.
    Nachdenklich sah er die Schwester einige Sekunden lang an, dann begriff er, wie unangenehm ihr sein Starren sein mußte, drehte sich wieder um und trat abermals an Evas Bett heran. Die Augen des Mädchens richteten sich wieder auf ihn, und erneut glaubte er darin diesen unheimlichen, wissenden Ausdruck zu erkennen, fast, als hätte das Kind tatsächlich jedes Wort verstanden, das sie gesagt hatten. Aber das war unmöglich. Ob Wolfskind oder nicht - sie hatten in einer Sprache geredet, die dieses Mädchen vor knapp zwei Wochen zum erstenmal gehört hatte. Sie konnte sie nicht verstanden haben.
    »Was stimmt nicht mit ihr?« murmelte er.
    Er wollte sich zu dem Professor herumdrehen, aber er konnte es nicht. Der Blick dieser dunklen, großen Kinderaugen bannte ihn auf eine zugleich unheimliche, wie nicht einmal unangenehme Art. Fast schien etwas... Vertrautes darin zu sein, etwas, das er schon einmal gesehen hatte. Aber wo?
    »Ich weiß, was Sie meinen«, sagte Wahlberg. »Sie muß tatsächlich eine ganze Weile bei diesen Wölfen verbracht haben. Sie hat schon einen Teil ihres Verhaltens übernommen. Wußten Sie, daß sie knurrt, wenn ihr etwas nicht paßt? und daß sie beißt und kratzt, statt zu schreien wie andere Kinder in ihrem Alter?«
    Stefan schüttelte den Kopf. Er gestand sich ein, daß er erbärmlich wenig über Eva wußte. Er war in den letzten zwei Wochen mehrmals hier gewesen, ihr aber niemals näher gekommen als bis auf die andere Seite der schalldichten Glasscheibe. Er löste seinen Blick nun doch von dem des Mädchens und sah Wahlberg an. »Haben Sie nicht gerade gesagt, daß ein Kind in diesem Alter nicht überleben könnte?«
    »Ich spreche nicht von Monaten«, antwortete Wahlberg.
    »Sie ist drei, allerhöchstens vier Jahre alt. Kinder in diesem Alter sind unglaublich aufnahmefähig. Und sie passen sich rasend schnell an veränderte Bedingungen an. Ihre Frau hat erzählt, daß die Wölfe sie beschützt haben, als Sie sie fanden?«
    Stefan nickte.
    »Wer weiß, unter welchen Bedingungen sie zuvor gelebt hat«, fuhr Wahlberg fort. »Vielleicht waren diese wilden Tiere die ersten Wesen, vor denen sie keine Angst zu haben brauchte. Oder die ersten Geschöpfe, von denen sie so etwas wie Zuneigung bekommen hat.«
    »Sie meinen, wir hätten sie dalassen sollen?« fragte Stefan. Natürlich meinte er seine Worte nicht so, aber Wahlberg antwortete trotzdem in ernstem Ton:
    »Sie wäre gestorben, wenn Sie sie nicht mitgenommen hätten. Ihre Frau und Sie haben richtig gehandelt, ganz egal, was dieser Dummkopf von Polizist auch sagt. Dem Zustand nach zu schließen, in dem sie hier eingeliefert wurde, kann sie nicht allzulange allein dort draußen gewesen sein. Vielleicht zwei Wochen, kaum mehr. In zwei weiteren Wochen wäre sie tot * gewesen.«
    »Aber ihr fehlt doch jetzt nichts?« fragte Stefan. Seine Stimme klang besorgter, als er es sich selbst erklären konnte, und er spürte auch einen tieferen Schrecken, als er erwartete.
    »Nein«, antwortete Wahlberg. »Jedenfalls körperlich nicht.«
    »Und geistig?«
    »Ich bin kein Psychologe«, erwiderte Wahlberg. »Aber soweit ich das beurteilen kann, ist sie vollkommen in Ordnung. Ihre Eltern haben offenbar versäumt, ihr einige Dinge beizubringen, das ist alles. Mit ein bißchen Geduld und Zeit ist das. in Ordnung zu bringen.« Er sah Stefan an. »Ihre Frau möchte sie adoptieren, nicht wahr?«
    Stefan nickte. »Ich glaube nicht, daß es etwas gibt, was sie davon abbringen könnte.«
    »Warum auch nicht?« sagte Wahlberg. »Wenn das, was Ihre Frau erzählt hat, wahr ist, dann ist es das Beste, was diesem armen Ding passieren konnte.« Wieder blickte er eine ganze Weile wortlos auf das Kind in dem verchromten Gitterbett hinab, und wieder hatte Stefan das unheimliche Gefühl, daß Eva den Blick des Arztes auf eine viel wissendere Weise beantwortete, als es ihr nach

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