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Wolfsherz

Wolfsherz

Titel: Wolfsherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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sagte Dorn. Er kam näher, stützte sich mit der linken Hand auf den Rand des Gitterbettes ab und streckte die andere nach Evas Gesicht aus, wie um ihr mit den Fingern über die Wange zu streichen. Das Mädchen starrte seine Hand an, legte den Kopf auf die Seite und zog die Lippen zurück, aber Stefan konnte beim besten Willen nicht sagen, ob zu einem Lächeln oder einem Zähnefletschen.
    Dom mußte es wohl ebenso ergehen, denn er führte seine Bewegung nicht zu Ende, sondern verharrte einen kleinen Moment lang reglos und richtete sich dann wieder auf. Eine Sekunde lang starrte er seine rechte Hand an, als wisse er nicht so richtig, was er damit tun sollte. »Wirklich, ein außergewöhnliches Kind«, sagte er noch einmal. »Ihre Frau hat mir erzählt, unter welchen Umständen Sie es gefunden haben.«
    Stefan schwieg. Es war klar, daß Dorn eine Antwort erwartete, aber die würde er nicht bekommen. Er wußte nicht, wieviel Rebecca ihm erzählt hatte.
    »Es ist unglaublich, zu welchen Grausamkeiten Menschen fähig sind«, fuhr Dom fort, nachdem er endlich einsah, daß Stefan nicht antworten würde. »Ich meine, so etwas erwartet man von ... von Wilden, einem Eingeborenenvolk irgendwo am Amazonas, das noch niemals einen weißen Mann gesehen hat. Aber
Menschenopfer,
hier, mitten in Europa.«
    »Das ist noch gar nicht sicher«, sagte Stefan.
    »Nein?«
    Stefan trat ebenso wie Dom einen Schritt vom Bett zurück, aber sein Blick streifte dabei noch einmal Evas Gesicht, und diesmal lief ihm ein spürbarer Schauer über den Rücken, als er in ihre Augen sah. Er hatte das Gefühl, daß das Mädchen verstand, worüber sie sprachen. Vielleicht nicht die Bedeutung der einzelnen Worte, aber den Sinn. Es kostete ihn spürbare Anstrengung, sich vom Blick dieser Augen loszureißen und sich vollends zu Dorn herumzudrehen. »Die Geschichte hat uns unser einheimischer Führer erzählt«, sagte er. »Als wir das Mädchen fanden, da klang sie einleuchtend. Mittlerweile bin ich nicht mehr sicher.«
    »Warum?« fragte Dorn.
    »Wenn Sie frierend, halb verrückt vor Angst und verletzt mitten in der Nacht in einem Waldstück ein nacktes Kind finden, das von ausgehungerten Wölfen bewacht wird, dann glauben Sie so ziemlich alles«, antwortete Stefan. »Aber mit ein bißchen Abstand und wieder zurück in der Zivilisation sieht die Sache schon ein bißchen anders aus.«
    Dorn sah ihn nachdenklich an. Natürlich hatte Stefan ihm nichts Neues erzählt; er selbst war vermutlich schon während Rebeccas Bericht zu dem gleichen Schluß gekommen, aber vielleicht gehörte es einfach zu seinem Beruf, alles anzuzweifeln, selbst scheinbar eindeutige Tatsachen. Jedenfalls wandte er sich mit einem fragenden Blick an den Professor: »Aber Sie sagten mir, das Kind hätte mit Sicherheit einige Zeit allein in der Wildnis verbracht.«
    »Soweit man das mit Sicherheit sagen kann«, bestätigte Wahlberg. Auch er trat näher, warf aber nur einen flüchtigen Blick in das Bett und hielt einen deutlich größeren Abstand ein als Stefan und Dom. »Wenn wir mit ihr reden könnten, würde das vieles erleichtern. Aber so...«
    »Aber sie ist doch alt genug, um sprechen zu können«, antwortete Dom. »Oder brauchen Sie einen Dolmetscher?«
    Wahlberg schüttelte den Kopf. »Das ist nicht das Problem. Schwester Danuta hier«, er deutete mit einer Hand auf die jugoslawische Krankenschwester, die es sich auf einem Stuhl neben der Tür bequem gemacht hatte und in einer Zeitschrift blätterte, »stammt aus dem gleichen Landstrich. Sie spricht ein halbes Dutzend Dialekte aus dieser Gegend - aus diesem Grund habe ich sie auch gebeten, sich um Eva zu kümmern -, aber das ist nicht das Problem. Das Kind hat bisher kein Wort gesprochen.«
    »Aber es muß doch mindestens vier Jahre alt sein«, wunderte sich Dom. Wahlberg zuckte abermals mit den Schultern. »Ungefähr, ja.«
    Dom wandte sich wieder zu Eva herum und sah stirnrunzelnd auf sie herab. Er dachte jetzt angestrengt nach, und Stefan fragte sich, ob er sich tatsächlich einbildete, in den paar Augenblicken ein Rätsel lösen zu können, an dem sich die Arzte in diesem Krankenhaus seit zwei Wochen die Zähne ausbissen. Und nicht nur sie.
    »Vielleicht ist sie ja eins von diesen Wolfskindern«, murmelte er.
    Wahlberg lachte kurz. »Glauben Sie mir, Herr Inspektor, das sind nur Legenden. Moderne Märchen.«
    »So?« Dorn sah hoch und setzte jetzt wieder sein berufsmäßiges Skeptikergesicht auf. »Also, ich habe einige Geschichten

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