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Wolfsherz

Wolfsherz

Titel: Wolfsherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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hochgewachsenen Burschen zusammengestoßen, der vor der Tür herumlümmelte und keinerlei Anstalten machte, zur Seite zu treten, obwohl er Stefan deutlich kommen sehen mußte. Stefan wich ihm im letzten Moment aus, murmelte gewohnheitsmäßig eine Entschuldigung und hatte zugleich das flüchtige Gefühl, den Mann eigentlich kennen zu müssen. Es war nicht sehr stark, aber doch eindringlich genug, dem Burschen einen zweiten, etwas aufmerksameren Blick zu gönnen.
    Nein, er kannte ihn nicht. Aber beim zweiten Hinsehen begriff er, wieso er ihm bekannt
vorgekommen
war. Er gehörte ganz eindeutig zu der Punkerin, die ihn oben auf der Treppe fast über den Haufen gerannt hätte. Sein altmodischer brauner Anzug war so verknittert und schmuddelig, als hätte er eine Woche lang darin auf einer Parkbank übernachtet, und sein Krawattenknoten war tatsächlich ein
Knoten;
ein Anblick, der geradezu lächerlich wirkte, der aber von dem wilden Ausdruck in seinem Gesicht und dem Blick seiner stechenden braunen Augen völlig wettgemacht wurde. Er mußte mindestens eins neunzig groß sein, wenn nicht mehr, und war dabei so breitschultrig, daß er schon fast mißgestaltet wirkte.
    Außerdem mußte er den gleichen Friseur haben wie die junge Frau: Sein Haar war ebenso zerzaust und ungepflegt wie ihres, und auch er hatte sich mehrere helle Strähnen hineinfärben lassen, ohne daß er damit allerdings die gleiche exotische Wirkung erzielte wie das Mädchen.
    Der Riese schien zu spüren, daß Stefan ihn anstarrte, denn er drehte mit einem Ruck den Kopf, blickte finster auf ihn herab, und Stefan beeilte sich, den Blick zu senken und etwas schneller auszuschreiten. Bei seinem Glück war der Typ verrückt genug, sich durch einen neugierigen Blick provoziert zu fühlen, und das letzte, was er im Moment gebrauchen konnte, war irgendein Zwischenfall.
    So schnell, wie er gerade noch konnte, ohne daß es zu deutlich nach Davonlaufen aussah, ging er zum Wagen, stieg ein und verriegelte die Tür hinter sich, bevor er den Schlüssel ins Zündschloß steckte. Eine überflüssige Vorsichtsmaßnahme. Als er in den Spiegel sah, erkannte er, daß der Bursche vor dem Haus stehengeblieben war und die Fassade mit weit in den Nacken gelegtem Kopf musterte. Mit Sicherheit hatte er ihn bereits wieder vergessen, falls er ihn überhaupt wirklich zur Kenntnis genommen hatte.
    Stefan rief sich in Gedanken zur Ordnung, während er den Schlüssel herumdrehte und ungeduldig darauf wartete, daß der altersschwache Motor ansprang. Er hatte allen Grund, nervös zu sein, und vermutlich noch mehr Grund zur Vorsicht, aber er tat sich keinen Gefallen, wenn er jetzt ins gegenteilige Extrem verfiel und hinter jedem unbekannten Gesicht einen potentiellen Attentäter vermutete. Stefan wurde klar, daß er nicht nur nervös, sondern auch total übermüdet war und daß er sich mit dem Koffein, das jetzt in seiner Blutbahn kreiste und seine Nerven zu Höchstleistungen aufpeitschte, vermutlich auch keinen Gefallen erwiesen hatte. Er war nicht wacher, sondern nur aufgedreht.
    Der Motor sprang endlich stotternd an. Stefan wartete ungeduldig, bis die Maschine einigermaßen rund lief, legte den Gang ein und fuhr los. Hinter ihm erscholl ein zorniges Hupen. Reifen quietschten, ein Wagen schoß so dicht an ihm vorbei, daß Stefan instinktiv den Kopf zwischen die Schultern zog und auf das Kreischen von Metall wartete, aber der andere Fahrer konnte den Zusammenprall im letzten Moment vermeiden. Der Wagen fand schlingernd in die Spur zurück und fuhr zu Stefans Erleichterung weiter, ohne abzubremsen.
    Stefan schloß die Augen, zählte in Gedanken langsam bis zehn und versuchte, sich abermals zur Ruhe zu zwingen. Es war sein Fehler gewesen. Er hatte nicht einmal in den Rückspiegel gesehen, sondern war einfach ausgeschert, und nur dank der Reaktionsschnelligkeit des anderen Fahrers war es nicht zu einem Unfall gekommen war. Er mußte sich zusammenreißen.
    Auf der Fahrt zum Polizeipräsidium kam er noch zweimal in brenzlige Situationen. Sie waren nicht so gefährlich wie die erste, zeigten ihm aber deutlich, daß er sich in einem Zustand der Erschöpfung befand, den er sich eigentlich nicht erklären konnte. Er hatte zwar einen anstrengenden Tag hinter sich und eine Nacht mit nur wenigen Stunden Schlaf, aber beides war etwas, was er durch seinen Beruf eigentlich gewohnt war. Offensichtlich beschäftigte ihn das Erlebte doch mehr, als er selbst wahrhaben wollte.
    Mit zehn Minuten Verspätung

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