Wolfsherz
mit Ausnahme des Bundespräsidenten und des Nato'Oberbefehlshabers hat er anscheinend jeden in dieser Stadt angerufen, der etwas zu sagen hat. Wahrscheinlich will er nur helfen, aber glauben Sie mir, es macht keinen guten Eindruck.«
Stefan sagte nichts dazu. Er war nicht besonders überrascht; vielleicht über das Ausmaß und die Schnelligkeit dessen, was Robert getan hatte, aber nicht darüber,
daß
er es tat.
»Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, Herr Mewes«, sagte Dom. »Ich habe wirklich zu tun. Ich verspreche Ihnen, daß ich mich sofort melde, sobald sich irgend etwas ergibt.«
Stefan bedankte sich, verließ das Büro und ging nachdenklich zu seinem Wagen zurück. Nach allem, was geschehen war, hätte es ihn nicht sehr verwundert, wenn er dieses Gebäude nicht als freier Mann verlassen, sondern sich urplötzlich in einer Zelle im Untersuchungsgefängnis wiedergefunden hätte. Aber statt froh darüber zu sein, fühlte er sich nur zutiefst verunsichert. Er hatte Geschichten wie diese hundertmal im Kino gesehen und tausendfach in Romanen gelesen, aber es war alles ganz anders, als er erwartet hätte. Wenn hinter allem, was er erlebt hatte, ein Sinn stand, dann war es einer, den er beim besten Willen nicht zu erfassen vermochte.
Er stieg in den Wagen, startete den Motor und sah auf die Uhr im Armaturenbrett, ehe er losfuhr. Seine Unterhaltung mit Dom hatte sehr viel weniger Zeit in Anspruch genommen, als er veranschlagt hatte. Wenn er jetzt in die Klinik fuhr, um Rebecca zu besuchen, würde er nur stören. Ihre Vormittage waren vollgepackt mit Untersuchungen, Anwendungen und Krankengymnastik, und er schrak auch ein wenig davor zurück, das Gespräch vom vergangenen Abend jetzt fortzusetzen. Das Vernünftigste wäre wohl, auf direktem Weg nach Hause zu fahren und zu versuchen, noch ein paar Stunden zu schlafen. Aber nachdem die Irrationalität mit solcher Gewalt über sein Leben hereingebrochen war, war ihm nicht nach Vernunft zumute. Vielleicht aus der Angst heraus, erkennen zu müssen, daß sie ihm nicht weiterhelfen konnte.
Er fuhr los; im ersten Moment, ohne selbst genau zu wissen, wohin.
In die Klinik konnte er noch nicht, und nach Hause wollte er noch nicht. Die verbleibende Auswahl anderer Orte, die er zu dieser Tageszeit aufsuchen konnte, war nicht allzu groß. Nicht, wenn er nicht Gefahr laufen wollte, irgendeinem übereifrigen Journalisten über den Weg zu laufen. Auch wenn er - gerade Becci gegenüber - nicht müde wurde zu behaupten, daß ihn das ganze Gerede nicht interessierte, so war ihnen doch beiden klar, daß sie unter ihren Kollegen im Moment das Gesprächsthema Nummer eins waren. Sie hatten sich bemüht, auch vor ihrer Abreise niemandem zu erzählen, wohin sie gingen und vor allem
warum
. Aber Geheimhaltung funktionierte in der Praxis selten so, wie man sich das vorstellte, und seit ihrer Rückkehr brodelte die Gerüchteküche noch mehr. Und wie die zahllosen Anrufe auf seinem Anrufbeantworter zu Hause bewiesen, würde sie auch nicht aufhören, bis er der Meute wenigstens ein paar Brocken hingeworfen hatte.
In Ermangelung einer besseren Idee lenkte er den Wagen in Richtung City, parkte in einer Tiefgarage und gönnte sich ein verspätetes Frühstück. Er mußte nachdenken, und das kalte Metall-Glas-und-Kunststoff-Ambiente des Restaurants erschien ihm dafür genau der richtige Ort. Er bestellte Kaffee und Kuchen, bezahlte sofort, als die Kellnerin kam, und konzentrierte sich eine Weile auf nichts anderes als auf sein Essen.
Nicht, daß es etwas nützte - seine Gedanken weigerten sich nach wie vor, in geordneten Bahnen zu laufen. Er hatte verstärkt das Gefühl, daß nichts von dem, was in den letzten Tagen geschehen war, Zufall oder gar Willkür gewesen war, sondern im Gegenteil einem klar erkennbaren Muster folgte.
Nur leider nicht klar erkennbar für ihn.
Nicht einmal im Ansatz.
Er vertilgte den Kuchen, las die letzten Krümel mit der Fingerspitze auf und leerte seine Kaffeetasse, war aber keineswegs gesättigt. Ganz im Gegenteil. Nach den Geschehnissen gestern abend war er gar nicht auf die
Idee
gekommen, etwas zu essen, und so hatte der Appetithappen seinen Hunger erst richtig geweckt. Er warf einen flüchtigen Blick in die Speisekarte, winkte die Kellnerin herbei und bestellte sich eine große Portion Rühreier mit Speck und dazu gleich eine ganze Kanne Kaffee. Die junge Frau nahm seine Bestellung schweigend auf, runzelte aber flüchtig die Stirn, während sie das
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