Wolfsherz
gebrauchte Geschirr auf ihr Tablett räumte und ging. Stefan konnte sie verstehen. Wenn schon nicht die Zusammenstellung, so war doch zumindest die Reihenfolge seiner Bestellung ungewöhnlich. Aber er war plötzlich unvorstellbar hungrig. Allein der
Gedanke
an Essen ließ seinen Magen knurren; so laut, daß er einen verstohlenen Blick aus den Augenwinkeln zum Nachbartisch warf, um sich davon zu überzeugen, daß das Geräusch dort nicht gehört worden war.
Vielleicht hätte er das besser nicht getan.
An dem Tisch schräg hinter ihm saß ein hellblonder junger Mann in Lederjacke und Jeans.
Stefan fuhr so heftig zusammen, daß sein Tischnachbar die Bewegung registrierte und seinerseits den Kopf drehte. Für eine einzelne, endlose Sekunde sahen sie sich genau in die Augen, und für dieselbe, subjektiv endlose Zeit war Stefan hundertprozentig sicher, daß es sein Verfolger war, die Chimäre, die das Schicksal aus einer unerklärlichen Laune heraus auf ihn angesetzt hatte, um sein Leben durcheinanderzubringen. Sein Herz hämmerte, und er konnte regelrecht
fühlen,
wie sein Adrenalinspiegel nach oben schoß und jeder einzelne Nerv in seinem Körper plötzlich unter Hochspannung stand.
»Ist irgendwas?« fragte der Blonde. Seine Stimme klang scharf, herausfordernd. Es war nicht der Kerl aus dem Krankenhaus. Er war ein gutes Stück älter, und sein Gesicht hatte nicht einmal Ähnlichkeit mit dem des anderen. Die Nerven hatten ihm einen Streich gespielt, das war alles.
»Nein«, murmelte Stefan. »Ich... entschuldigen Sie. Ich habe Sie verwechselt.«
Hastig drehte er sich wieder auf seinem Stuhl herum und starrte in die andere Richtung. Seine Hände zitterten, und sein Herz schlug immer noch schnell und hart, und er konnte spüren, daß ihn der Mann weiter anstarrte. Er kam sich vor wie ein Idiot, und wenn er ehrlich gegen sich war, dann benahm er sich auch so.
Aber war das ein Wunder?
Irgend etwas
geschah. Er konnte mit fast körperlicher Intensität
fühlen,
daß irgend etwas vor sich ging; wie ein Gewitter, das sich noch hinter dem Horizont zusammenbraute, dessen geballte Energien man aber trotzdem schon spürte, und es hatte etwas mit ihm zu tun. Mit ihm und Rebecca und dem, was im Wolfsherz geschehen war.
Vouk.
Er hatte das Wort nicht vergessen, das Schwester Danuta am vergangenen Abend benutzt hatte; weder das Wort selbst, noch - viel mehr - die fast unheimliche Art, auf die sie es betont hatte. Die Angst in der Stimme der
Krankenschwester war unüberhörbar gewesen. Vielleicht hätte er Doms Vermutung doch nicht so leicht von sich weisen sollen. In der modernen, fast schon kalten Umgebung, in der er sich momentan befand, kam ihm der Gedanke lächerlicher vor denn je, und trotzdem:
Was, wenn sie sich wirklich mit Mächten eingelassen hatten, denen sie besser nicht begegnet wären... ?
Die Kellnerin kam und brachte seine Bestellung. Der Größe der Portion nach zu schließen, mußte er wirklich einen ausgehungerten Eindruck auf sie gemacht haben. Aber er war ganz plötzlich nicht mehr hungrig.
Stefan zahlte, fügte ein unverhältnismäßig großes Trinkgeld hinzu und verließ das Restaurant. Der junge Bursche vom Nebentisch blickte ihm stirnrunzelnd nach, und für einige Sekunden war Stefan sehr sicher, daß er aufstehen und ihm nachgehen würde; vielleicht, um ihn draußen zur Rede zu stellen, oder sonstwas zu tun.
Unsinn!
Stefan entfernte sich rasch ein paar Schritte vom Restaurant - gerade weit genug, um von drinnen nicht mehr gesehen werden zu können -, blieb stehen und zwang sich, ein paarmal tief ein- und wieder auszuatmen. Niemand war hinter ihm her; zumindest nicht der junge Mann aus dem Restaurant. Der Kerl hatte ihm nachgesehen, okay. Und? Wahrscheinlich hatte er ihn in diesem Moment bereits wieder vergessen, und wenn nicht, so würde er es in spätestens einer Stunde haben. Vielleicht erzählte er irgendwann am Abend seiner Freundin oder seinen Kumpels von dem Verrückten, der ihn im Restaurant angegafft hatte und bei seinem Anblick vor Schrecken fast vom Stuhl gefallen wäre, aber
mehr auch nicht.
Mit Sicherheit hatte er in diesem Moment sein Gesicht bereits vergessen.
Trotzdem warf er noch einen letzten Blick zum Ausgang des Restaurants zurück, ehe er schließlich auf dem Absatz kehrtmachte und zu dem Parkhaus ging, wo er seinen Wagen abgestellt hatte.
Der Weg war nicht weit. In diesem Teil der Stadt war ohnehin beinahe jedes dritte Gebäude ein Parkhaus, und angesichts des unsicheren
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