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Wolfsherz

Wolfsherz

Titel: Wolfsherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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heraufbeschworen; ein Wissen, gegen das sie sich verzweifelt wehrte und das ihr ungleich größere Qual zu bereiten schien als das, worüber Stefan sprach, ihm selbst; vielleicht, weil das Geheimnis, über das er sprach, in Wahrheit noch viel, viel düsterer und unmenschlicher war.
    »Das sind nur Legenden«, antwortete die Schwester. »Dinge, die die Alten erzählt haben. Märchen, mehr nicht.«
    »Wie oft passiert das?« fragte Stefan. »Jedes Jahr? Bei jedem Vollmond? Oder nur einmal in jeder Generation?« Er rechnete nicht damit, daß Danuta diese Frage beantworten würde, denn mit großer Wahrscheinlichkeit kannte sie die Antwort gar nicht. Er mußte einfach reden, um mit dem Entsetzen fertigzuwerden, mit dem ihn das Gehörte erfüllte.
    »Die Leute dort sind einfache Leute«, sagte Danuta. »Sie glauben an einfache Dinge, und sie tun einfache Dinge.«
    »Sie meinen, sie opfern Kinder?« Er sah, wie sie unter seinen Worten zusammenfuhr, als hätte er sie geohrfeigt und fragte sich, warum er sie verantwortlich machte.
    »Dieses Tal ist ein verfluchter Ort«, antwortete Danuta. »Man darf seinen Namen nicht aussprechen. Die Menschen, die dort wohnen, haben Angst.«
    So große Angst, dachte Stefan, daß sie ihre eigenen Kinder opferten? Er wußte, daß es die einzige rationale Erklärung war, aber ein Teil von ihm weigerte sich immer noch, es zu glauben. Es war wohl so, wie Dorn vorhin gesagt hatte: Sie sprachen nicht über einen Eingeborenenstamm aus den unzugänglichsten Teilen der Amazonas-Wälder, sondern von einem Gebiet, das eine knappe Flugstunde von hier entfernt lag.
    »Hatte Dorn recht?« fragte er. »Sagen Sie mir die Wahrheit, Danuta: Kann es sein, daß dieser Mann gekommen ist, um das Kind zu holen?«
    »Nein!« Sowohl ihr Kopfschütteln als auch ihre Stimme wirkten fast entsetzt. »Niemand würde das tun. Es ist...
vouk.«
    »
Vouk
?« Stefan überlegte, dann nickte er. »Das heißt ›Wolf‹, nicht wahr? Sie meinen, es ist als Opfer für die Wölfe gedacht?«
    »Niemand darfes berühren«, antwortete Danuta.
    Aber sie hatten es berührt. Stefan schauderte. Sie hatten mehr getan, als es zu
berühren.
Sie hatten dieses Kind gerettet, hatten den Wölfen ihr Opfer genommen und damit vielleicht etwas viel Tieferes, viel Älteres und möglicherweise Gefährlicheres berührt, als ihnen beiden bis zu diesem Moment klargewesen war. Die Tradition dieser barbarischen Menschenopfer mußte bis ins Mittelalter und vielleicht noch viel weiter zurückreichen. Wer mochte sagen, wozu Menschen fähig waren, die seit ungezählten Generationen daran gewöhnt waren, das Blut ihrer eigenen Kinder zu vergießen?
    Seine Reaktion - die einzig mögliche Reaktion - auf diese Erkenntnis war klar: Es mußte aufhören! Er hatte nur eine Option, mit diesem schrecklichen Wissen umzugehen: es an die richtigen Stellen weiterzugeben, damit irgend jemand dafür sorgte, daß das Morden endete. Aber dann sah er in Danutas Augen, und ihm war, als spürte er Evas Blick - und auf eine seltsame, unheimliche Weise war es tatsächlich so; für einen unendlich kurzen Moment fühlte er sich von etwas berührt, das unsichtbar und bisher unbemerkt mit ihnen im Raum zu sein schien und konnte gar nicht anders, als sich herumzudrehen und das kleine Mädchen anzusehen -, und er las in ihrer beider Augen dasselbe Wissen, das auch tief in ihm war. Er würde es nicht tun. Er würde niemanden in dieses schreckliche Geheimnis einweihen, und sei es nur, weil das bedeuten würde, Eva endgültig zu verlieren; denn damit würde er genau das heraufbeschwören, was nicht nur Professor Wahlberg befürchtet hatte.
    Gut zehn, vielleicht auch zwanzig Sekunden stand er einfach da und blickte reglos in die Augen des Mädchens, und schließlich war es die Schwester, die den Bann brach, indem sie sich aus ihrer eigenen Erstarrung löste und mit schnellen Schritten an ihm vorbei und zum Bett ging.
    »Ich werde niemandem etwas verraten«, sagte er. Schwester Danuta reagierte nicht auf die Worte, fast, als hätte sie sie mit hundertprozentiger Gewißheit erwartet, so daß sie im Grunde schon überflüssig geworden waren. Statt dessen beugte sie sich über das Bett und nahm Eva mit einer routinierten Bewegung heraus und auf den Arm. Nachdem Stefan ihr weitere fünf oder vielleicht auch zehn Sekunden dabei zugesehen hatte, drehte er sich wortlos um und verließ das Zimmer und gleich darauf die Station.
    Wie er es versprochen hatte, war er noch einmal zu Rebecca gegangen,

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