Wolfskinder - Lindqvist, J: Wolfskinder - Lilla stjärna: Wolfskinder
können, wo niemand sie kannte und sie noch einmal von vorn anfangen konnte. Gerne … ja, gerne auch zusammen mit Johannes. Aber es war zu früh dafür. Und auch schon zu spät.
»Teresa?«
»Ja?«
»Wollen wir anfangen?«
Sie drückte auf den Startknopf, und der Kampf begann. Kuma trottete in den Ring. Lee machte seine Moves. Plötzlich spürte Teresa, dass es absolut wichtig war zu gewinnen. Mit einer Verbissenheit, die ganz untypisch für sie war, tanzten ihre Finger über die Knöpfe und versuchten die Kombinationen hinzubekommen, an die sie sich noch erinnern konnte.
Aber vergeblich. Ohne auch nur ein Locke seiner Frisur in Unordnung zu bringen, wirbelte Lee Kuma durch den Ring, trat und schlug ihn, bis er k.o. mit der Schnauze zum Himmel gerichtet in seinem roten T-Shirt auf der Matte lag.
Teresas Wangen liefen rot an, und sie wollte einfach nur schreien. Es war vollkommen unwirklich. Im wahren Leben hätte der Bär dieses Mannequin in Streifen geschlitzt, ihm den Kopf von den Schultern gerissen. Die Matte wäre blutgetränkt gewesen.
13
Mitte Mai zog Johannes aus. Teresa stand am Fenster des Speicherraums im Obergeschoss und kaute an einem harten Brotkanten mit Erdnussbutter, während sie den letzten Umzugswagen aus der Einfahrt verschwinden sah. Eine Fliege tanzte vor der Glasscheibe, und die zähe Pampe in Teresas Mund war kaum herunterzubekommen. Dann war es vorbei. Irgendwo im Haus rief Maria, dass Teresa kommen und das Kleid für das Schulabschlussfest anprobieren sollte.
Das Kleid, das Mitte Mai noch gut gepasst hatte, passte Mitte Juni gar nicht mehr so gut. Teresa stand ganz hinten mit den anderen Sechstklässlern und bewegte die Lippen zu »Jetzt kommt der Blumen Pracht« und dem Barfußlied. Sie sah die jüngsten Kinder herumtoben oder vor Ungeduld auf der Stelle hüpfen. Lass den Sommer kommen.
Arvid und Olof hatten ihre Abschlussfeiern später in der Woche, und Göran musste arbeiten, sodass Teresas Familie von Maria sowie den Großeltern Ingrid und Johan vertreten wurde. Es wurde nicht viel geredet, als sie anschließend beim Picknick auf der Wiese hinter dem Fußballplatz auf ihrer Decke saßen. Johan nestelte an seiner Halskette aus Plastikperlen herum, die er immer noch trug, und Ingrid überreichte ihr einen Geschenkgutschein über fünfhundert Kronen für H&M.
Es war ein schöner Tag, wie geschaffen für eine Schulabschlussfeier. Dünne Wolken zogen über den postkartenblauen Himmel, und Kinderlachen klang durch die laue Luft. Teresa saß im Schneidersitz auf der Decke und stellte fest, dass sie richtig glücklich war. Als Ingrid eine Hand auf ihr Knie legte und sagte: »Stell dir vor, jetzt hast du den ganzen, langen, herrlichen Sommer vor dir«, antwortete sie von Herzen: »Ja, das wird schön.«
Was am folgenden Tag passierte, würde sie wohl nie ganz verstehen.
Am Telefon hatte sie mit Johannes verabredet, dass sie ihn in seiner neuen Wohnung besuchen würde. Als sie vormittags um zehn aus dem Haus trat, war sie voller Glück und Leichtigkeit. Es war wieder ein schöner Tag, und sie freute sich darauf, mit dem Rad die vier Kilometer nach Österyd zu fahren. Siebzig Tage Sommerferien lagen vor ihr wie leere, bunte Kästchen, denen sie einen Inhalt geben durfte.
Ein gutes halbes Jahr zuvor hatte sie zu ihrem zwölften Geburtstag ein Fahrrad geschenkt bekommen. Drei Gänge. Mehr wollte sie nicht. Sie kontrollierte, dass in den Reifen genug Luft war, bevor sie sich in den Sattel schwang und auf die Schotterstraße hinausfuhr.
Es knisterte unter den Reifen, und der Fahrtwind streichelte ihr Gesicht. Sie musste einen Kilometer auf dem Schotterweg zurücklegen, bevor sie die Landstraße nach Österyd erreichte. Als ein kleiner Vogel in einem Baum am Weg zwitscherte, dachte sie ganz bewusst folgenden Gedanken: Ich bin ein Kind am ersten Tag der Sommerferien. Ich radle auf einer schönen Schotterstraße .
Sie hob den Blick und sah, wie sich der Weg vor ihr durch die Felder schlängelte. Sie hörte auf zu treten und rollte weiter: Ich bin ein Kind, und die Sommerferien haben gerade …
Etwas änderte sich.
Zuerst dachte sie, dass eine Gewitterwolke aufgezogen war und sich vor die Sonne geschoben hatte, so deutlich empfand sie diese Veränderung. Aber der Himmel war so gut wie wolkenlos, und die Sonne strahlte hell auf die Erde herab.
Wie konnte es dann passieren, dass sie plötzlich dachte, der Schotterweg vor ihr würde im Dunkeln verschwinden? Sie kannte doch den Weg.
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