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Wolfskuesse - Mein Leben unter Woelfen

Wolfskuesse - Mein Leben unter Woelfen

Titel: Wolfskuesse - Mein Leben unter Woelfen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elli H. Radinger
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auf seinem kleinen Schemel und scannte mit seinem Spektiv das Gelände. Es war einer der wenigen Momente, an denen er nicht von Menschen umringt war. Nur meine Freunde Carol und Mark aus Colorado, die |149| wieder mal ein paar Tage in ihrem Haus in Silver Gate verbrachten, waren noch bei ihm. Rick McIntyre war ein wenig wie die Wölfe – er hatte immer neue überraschende Seiten. Was mich am meisten verblüffte, war sein ungeheures Wissen über alles, was in der Welt vor sich ging. Da verbrachte dieser Mann den ganzen Tag damit, auf der Suche nach Wölfen durch den Nationalpark zu fahren. Abends in seinem kleinen Blockhaus übertrug er seine Aufzeichnungen in den Computer. Wann um alles in der Welt hatte er noch Zeit, sich mit anderen Dingen zu beschäftigen?
    Jetzt stand er vor mir und überraschte mich mit Fragen zu Sophie Scholl und der Weißen Rose. Er hatte gerade etwas über die Widerstandsbewegung im Dritten Reich gelesen und wollte nun mehr darüber wissen. Ich fürchtete diese Momente, die oft so überraschend kamen, dass ich bei seinen Bildungsfragen nach Weimarer Verfassung, Mittelalter, Luther oder Wiedervereinigung meist passen musste. Ich kam nicht hinter Ricks Geheimnis. Entweder las er noch die ganze Nacht, oder er schaute sich Dokumentationen an. Auf jeden Fall war er stets über alles informiert.
    Bevor er mich noch weiteren Geschichtstests unterziehen konnte, stellte ich meine Frage nach den Wölfen:
    »In den Hinweisen des Park Service steht, dass wir uns keinen Wölfen nähern dürfen. Auch ist es verboten, Tiere zu verscheuchen. Was aber, wenn ich nun irgendwo stehe, und ein Wolf kommt auf mich zu, eventuell mit eindeutiger Bettelabsicht?«
    »Wenn ein Wolf sich dir neugierig nähert oder eindeutig versucht zu betteln, dann kannst du ihn anschreien und in die Hände klatschen. Hau ab, Wolf!«, demonstrierte Rick und fügte mit einem schelmischen Grinsen hinzu:
    »Am besten sprichst du Deutsch mit ihm. Eure harte Aussprache wird ihn gleich verschrecken.«
    So viel zum Humor des obersten Wolfsbiologen.
    Ich hatte mehrere Male nahe Begegnungen mit Wölfen in Yellowstone. Und jeder dieser Momente war reine Magie.
    |150| An einem frühen Frühlingsmorgen, als die Straße von Mammoth Hot Springs zum Old Faithful zum ersten Mal schneefrei und für den Verkehr freigegeben worden war, fuhr ich zum Norris Geysir Becken. Ich liebe die Zeit, in der ich noch ganz allein bin und meinen Gedanken nachhängen kann. Norris gehört zu meinen Lieblingsgeysiren. Hier fühle ich mich ganz dicht am »Bauch« von Mutter Erde. Die Erdkruste ist in diesem Gebiet nur fünf Kilometer dick (normal sind etwa fünfzig Kilometer). Yellowstone ist ein schlafender Supervulkan. Das Land hat eine ganz besondere Kraft, weil in ihm die unbegrenzten Möglichkeiten der Natur lebendig sind. Norris ist der heißeste Ort im Park – aus Feuer und Eis geformt. Manchmal geschehen hier Dinge sehr langsam – gemessen an geologischen Zeiten – und manchmal blitzschnell. Ein Ort, an dem die Schöpfung kein Ende nimmt.
    Ich saß auf einem Baumstamm inmitten von gluckernden, brodelnden, zischenden heißen Quellen. Zwischen kalten Schneefeldern atmeten Flüsse und Bäche riesige Dampfwolken aus. Warme Ströme, die in einer arktischen Umgebung irgendwie deplatziert wirkten. Die Sonne tat sich schwer, einen Weg zu den von Mineralien gefärbten roten und blauen Wasserströmen zu finden. In der Ferne hörte ich ein helles Yippen, Quietschen, Fiepen, Kreischen. Es schwang sich hoch und verwandelte sich in ein helles Lachen, das Trällern einer Operndiva. Kojoten! Meine wilden Freunde. Sie sangen ihr Morgenlied. Ihr Gebet an die Sonne.
    Hinter mir – ganz nah – die Antwort. Tiefer. Ruhiger. Länger. Aus kräftiger Kehle. In Zeitlupe drehte ich mich um. Ein hellgrauer Wolf stand nur etwa fünf Meter entfernt und schaute mich an. Am aufgestellten Kranz seiner Nackenhaare konnte ich erkennen, dass es ein noch junges Tier war. Die Ohren waren nach vorn gerichtet. Der Schwanz auf halber Höhe zeigte Unsicherheit. Ich hatte die Kamera direkt neben mir liegen, verzichtete aber darauf, nach ihr zu greifen. Das hätte den Zauber zerstört. Ich hielt den Atem an. Mein Herzschlag dröhnte laut in meinen Ohren. Wir schauten uns an. |151| Gelbe Augen tauchten in blaue Augen ein. Sekunden. Minuten. Ein Stück Ewigkeit. Dann flog neben mir ein Vogel auf und erschreckte mich. Der Wolf machte einen Satz nach hinten, drehte um und rannte davon. Noch lange saß ich

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