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Wolfskuesse - Mein Leben unter Woelfen

Wolfskuesse - Mein Leben unter Woelfen

Titel: Wolfskuesse - Mein Leben unter Woelfen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elli H. Radinger
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eines Hirschs, die dem Wolf und dem erfahrenen Beobachter zeigen, in welcher Verfassung das Tier ist. Ein gesunder, starker Hirsch hält den Kopf hoch erhoben und leicht zurückgeworfen. So hat er einen besseren Rundumblick. Mit einem leichten, etwas übertrieben wirkenden Trott sieht er aus wie Fred Astaire, der durch den Regen steppt. Andere zeigen durch ein steifes Hochspringen mit allen vier Beinen, ähnlich wie Cheerleader, ihre Stärke. Ein fast provozierendes »Du kriegst mich nicht«.
    Die Wölfe können schon anhand des »Tanzes« der Hirsche sehen, wie groß ihre Chancen sind, die Beute zu erlegen. Oft bleiben die Hirsche nach der kleinen Demonstration ihrer Stärke stehen und stellen sich den Wölfen. Diese flüchten dann meist vor den scharfkantigen Hufen und ziehen sich zurück.
    Die Hirschkuh, die ich jetzt beobachtete, fiel in vollen Galopp. Dabei hatte sie den Kopf weit nach vorn gestreckt. Ich zählte fünf Wölfe, die ihr nachsetzten. Normalerweise kann ein gesunder Hirsch mit seiner großen Schrittlänge einem Wolf entkommen. Aber das hier war kein gesundes Tier. Schnell erreichten die Wölfe ihre Beute. Liefen an ihrer Seite. Sprangen nach den Flanken und dem Hals. Das Tier schüttelte sie ab. |157| Trat mit den Vorderhufen und traf einen der Wölfe. Der rollte durch den Schnee, rappelte sich auf und setzte die Jagd fort. Die Wölfe hingen an ihrer Beute wie Kugeln an einem Weihnachtsbaum. Die Hirschkuh stolperte und fiel, zwei Wölfe an der Kehle, einen am Bauch und zwei an den Hinterbeinen. Noch einmal versuchte sie aufzustehen. Dann fiel sie endgültig hin.
    Rick untersuchte später den Kadaver. Die Hirschkuh hatte Arthrose an den Knöcheln, die stark angeschwollen waren. Sie musste große Schmerzen gehabt haben.
    Während ich beobachtete, wie die Wölfe ihre Beute aufrissen und tief in sie eintauchten, um sich die besten Teile zu sichern, dachte ich an ein altes russisches Sprichwort: »Wo der Wolf jagt, wächst der Wald.« In Yellowstone hatte es sich bewahrheitet. Natürlich konnten Wölfe niemals so viele Hirsche fressen, um einen direkten Einfluss auf das Wachstum der Pflanzen zu haben. Aber aus der Sicht der Hirsche waren die Flusstäler zu einer Art »Todesfalle« geworden. Vorbei die Zeiten, in denen sie in aller Ruhe herumschlendern und die Baumspitzen abknabbern konnten. Sie mussten aufpassen, was um sie herum geschah. Patrouillierende Wölfe überwachten ihren reichlich gedeckten Tisch. Eine »Ökologie der Angst« war entstanden, die die Landschaft veränderte. Die Hirsche zogen sich auf offene Flächen zurück, die ihnen einen besseren Überblick boten. Büsche wuchsen zu Bäumen heran. Singvögel kamen zurück und bauten ihre Nester in den Bäumen. Der Schatten, der auf die Flüsse fiel, kühlte diese ab und machte sie sauerstoffreicher. Das wiederum gab einigen Forellenarten eine neue Heimat.
    Und noch ein Tier war mit den Wölfen zurückgekommen: der Biber. Im nördlichen Teil von Yellowstone galten die großen Nager als ausgestorben. Sie verschwanden mit den großen Beutegreifern. Als die Wölfe zurückkamen, folgten ihnen die Biber. Sie sorgten für das Entstehen neuer Feuchtgebiete, die wiederum Amphibien und Insekten eine Heimat boten.
    Ich beobachtete das Geschehen im Tal. Wie wenig wissen |158| wir doch von den Zusammenhängen in der Natur. Wenn wegen einer seltenen Fledermausart eine Autobahn verlegt werden muss, dann geschieht das zu Recht. Wenn Menschen sich an jahrhundertealte Bäumen ketten, um zu verhindern, dass sie gefällt werden, dann verneige ich mich vor ihnen. Denn es geht nicht »nur« um eine Tier- oder Pflanzenart. Es geht um viel mehr. Jede einzelne dieser alten und geschützten Arten ist Teil eines Ganzen – ebenso wie auch wir Teil eines Ganzen sind. Verändern wir das eine, zieht es zwangsläufig auch Veränderungen des anderen nach sich. Immer mehr wird mir bewusst, dass unsere Erde ein einziger großer lebender Organismus ist, zu dem auch wir gehören.
    Wenn Wölfe in eine Landschaft zurückkommen, aus der sie einst verschwunden waren, dann bedeutet das nicht nur: »Die Wölfe sind da und fressen ein paar Hirsche.« Nein, mit ihrer Rückkehr verändert sich
alles
.
    Vom Hirsch zum Grizzly, vom Nagetier zum Greifvogel. Vom Wald zu den Flüssen. In Yellowstone wurde durch die Rückkehr der Wölfe das ökologische Kartenspiel neu gemischt.
    So reduzierten die Wölfe in den ersten zwei Jahren die Kojotenpopulation um die Hälfte. Sie betrachteten sie als

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