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Wolfskuesse - Mein Leben unter Woelfen

Wolfskuesse - Mein Leben unter Woelfen

Titel: Wolfskuesse - Mein Leben unter Woelfen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elli H. Radinger
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da und versuchte, das Unbegreifliche zu begreifen.
    Ich hatte den Wolf nicht fortgejagt – und auch nicht deutsch mit ihm gesprochen. Um nichts in der Welt hätte ich den Wimpernschlag der Ewigkeit durch mein Verhalten zerstören wollen. Ich war nur dankbar, diesen Augenblick erleben zu dürfen.

|152| DIE VERLORENE UNSCHULD DER HIRSCHE
    Der Fleischberg tauchte aus dem Nichts direkt vor dem Auto auf und riss mich aus meinen Tagträumen. Ich trat auf die Bremse und war schon mitten in einem Bisonstau. Mist! Gerade heute hatte ich es eilig. Es gibt Tage, da klappt gar nichts. In der Nacht hatte ein gewaltiger Sturm für einen Blackout in meiner Cabin gesorgt. Kein Strom, kein Internet. Nichts Ungewöhnliches hier in der Wildnis, wo sich die Stromleitungen von Ast zu Ast schwingen wie Lianen im Urwald. Ich hatte noch schnell einen Artikel an eine Zeitschrift mailen wollen, doch nun hing ich fest. Hoffentlich war er nicht im digitalen Nirwana verschwunden. Kaffee konnte ich mir auch keinen kochen. Also ließ ich das Frühstück ausfallen und machte mich schlecht gelaunt auf den Weg ins Lamar Valley. Vor mir fuhr langsam ein Auto mit Touristen. Dann tauchten die Bisons auf. Eine Herde von etwa dreißig Tieren schlenderte gemächlich die Straße entlang. Gelegentlich gab es eine Lücke. Aber statt sie zu nutzen, um ein Stück vorwärtszukommen, kurbelten die Insassen vor mir das Autofenster herunter und fotografierten wie wild. Vermutlich wussten sie nicht, wie man einen solchen Bisonstau am besten durchfährt. Ein Ranger hatte mir einmal verraten: »Stoßstange an Stoßstange. Du musst eins werden mit deinem Vordermann und Hintermann. Wenn du den Bisons den kleinsten Millimeter Platz zwischen den Autos lässt, drängen sie sich hinein, und du musst dich weiter in Geduld üben.«
    Geduld war genau das, was ich heute Morgen am wenigsten hatte. Ich atmete mehrmals tief durch, zählte langsam bis zehn und ergab mich meinem Schicksal. Es gab Schlimmeres, als in Yellowstone im Bisonstau zu stehen. Ich gehöre zu den Menschen, die eigentlich immer in der falschen (sprich: längsten) |153| Schlange stehen, ob im Supermarkt oder am Bankschalter. Wieso hatte ich es nur so eilig? Nichts lief mir davon, schon gar nicht die Wölfe. Ich konzentrierte mich auf die Bisons, die so dicht an meinem offenen Autofenster vorbeizogen, dass ich sie hätte berühren können. Sanfte, dunkle Augen in schokoladenbraunem Fell musterten mich. Für ihre Größe waren sie erstaunlich leise. Nur ein gelegentliches Schnauben und das Klacken der kleinen Hufe auf dem Asphalt waren zu hören. Als sie nach vierzig langen Minuten die Straße freigaben, war meine Ungeduld angesichts ihrer Ruhe und Gelassenheit verpufft. Ganz gemütlich trödelte ich nun den üblichen Weg von Parkbucht zu Parkbucht, um nach Wölfen Ausschau zu halten.
    Als ich das Soda Butte Valley erreichte, verringerte ich meine Geschwindigkeit noch mehr. Meine »Junggesellen« standen neben der Straße. So nannte ich die kleine Gruppe kräftiger Wapitihirsche, die sich regelmäßig im Tal versammelten. Sie sahen mich näher kommen. Die Lauscher aufgestellt. Schwer das große Geweih, das sie bald abstoßen würden. Langes, dunkles Nackenhaar, das sich jetzt im Spätwinter um den Hals bis unter das Kinn erstreckte wie der Bart eines Amish. Ihr Blick war ruhig, hatte aber nicht das Starren einer Kuh. Als ich langsam an sie heranfuhr, warfen sie den langen Hals nach hinten. Die Bewegung erinnerte mich an ein junges Mädchen, das sein langes Haar zurückwirft. Dem Hals folgten der Brustkorb und die Vorderbeine. Die Hinterbeine blieben stehen und lösten sich erst aus der Pirouette, als der Hirsch schon fast eine Drehung von einhundertsechzig Grad vollführt hatte. Der Schnee stob auf, als sie davontrabten. Ich schaute ihnen nach. Vor fünfzehn Jahren waren sie noch nicht davongelaufen. Waren stehen geblieben und hatten weiter mit den Hufen den Schnee fortgescharrt, um dann gelassen zu grasen. Jetzt verhielten sie sich wachsamer. Mit der Rückkehr der Wölfe hatte sich auch das Leben ihrer Beutetiere verändert.
    Ich fuhr weiter. Als leidenschaftliche Frühaufsteherin war ich meist die Erste im Park – selbstverständlich erst nach |154| Rick. Der Soda Butte im gleichnamigen Tal stank vor sich hin. Der austretende Kalk der heißen Quelle hatte einen Kegel gebildet. Jetzt ruhte sie, verströmte aber weiterhin ihren Schwefelgeruch.
    Ich hielt in der kleinen Parkbucht und schaute zum Nordhang der

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