Wolfslegende
großer Motivator.«
Chiyoda lachte leise. Aber seine Augen erreichte dieses Lachen nicht. Kalt und leer blickten sie immer noch in eine Ferne, die jenseits der Horizonte zu liegen schien.
»Ich mache mir Sorgen«, sagte er.
»Um Landru oder um Nona?« fragte der Arapaho.
»Um Nona. Sie trägt nicht mehr in sich, was Landru ihr einst einflößte: die Kraft, die über ihr Wolfsein hinausgeht. Seit dem Besuch im Dunklen Dom altert sie wieder. Der Zauber des Lilienkelchs ist verflogen. Jeder kann sie nun bezwingen . und töten .«
»Das glaubst du nicht wirklich.« Makootemanes erste Begegnung mit Nona lag mehr als dreihundert Jahre zurück. Sie war in Landrus Begleitung gewesen, als der Kelchhüter die Unsterblichen des Ara-paho-Stammes erschaffen hatte. Bereits zweihundert Jahre davor war sie geboren worden. Und ein halbes Jahrtausend an Lebenserfahrung war nicht in Gold aufzuwiegen.
»Ich hoffe es nicht.« Chiyodas Stimme klang plötzlich rauh und keineswegs mehr so souverän wie bisher. »Das ist ein gewaltiger Unterschied .«
*
Nona observierte das Haus des Gemüsehändlers Chaim (der Name prangte auf der Markise über dem Ladeneingang) auch die nächsten Tage, ohne daß Anum oder Lilith es auch nur kurzzeitig verlassen hätten. Nur das Mädchen Rahel war noch einmal in Erscheinung getreten. Am ersten Tag hatte sie das Gebäude verlassen und die nähe-re Nachbarschaft aufgesucht, wo sie wohl mit Bekannten gesprochen hatte. Wieder nach Hause zurückgekehrt, hatte sie ein Schild an die Glastür gehängt, auf dem seither VORÜBERGEHEND GESCHLOSSEN zu lesen stand.
Nona war Rahel ein Stück weit gefolgt und hatte mit dem Gedanken gespielt, den rehäugigen Lockenschopf offen anzusprechen. Doch letztlich war ihr das Risiko, sich damit selbst ein Bein zu stellen und Chancen zu verbauen, doch zu groß erschienen. Unbehelligt war Rahel wieder in ihr Elternhaus zurückgekehrt. Ein Mädchen, das, wenn Nonas Eindruck in den Katakomben nicht getäuscht hatte, absolut immun gegen jedwede hypnotische Beeinflussung war. Solange aber andere aus der Familie als Faustpfand mißbraucht werden konnten, erwuchs Rahel daraus kein Vorteil.
Sie müßte schon so skrupellos sein wie ich, dachte Nona am Morgen des vierten Tages. Verdammt! Wie lange wollen sie sich denn noch in diesem Bau verkriechen? Was treiben sie darin? Treiben sie es miteinander? Aber irgendwann müssen sie auch davon genug haben und wieder etwas unternehmen!
Nach Rahels Rundgang hatte Nona herauszufinden versucht, was sie mit den Nachbarn beredet hatte. Sie beherrschte das Hebräische nicht, aber ein junger, gutaussehender Mann, der sich von ihrem Charme hatte einfangen lassen, sprach ebenso perfekt Englisch wie sie selbst. Und auf ihre Frage, ob er vielleicht wisse, warum der Gemüseladen der Chaims geschlossen sei und auch in der Privatwohnung niemand auf Klingeln und Klopfen reagiere, hatte er ihr bereitwillig geantwortet: »Die Besitzer sind für ein paar Tage nach Ramallah hinauf gefahren. Rebecca, Gershoms Frau, verträgt die Sommerhitze in der Stadt nicht mehr. Sie leidet an Asthma. Deshalb sind sie jetzt, wo die Touristenströme wieder abflauen, in die Berge gefahren. Das Klima dort ist wesentlich gemäßigter.«
»Sie alle Chaims fortgegangen?«
»Natürlich. David und Rahel wären noch viel zu klein, um alleine hierzubleiben.«
Offenbar war die Einkehr zweier Fremder ins Haus der Chaims keiner Seele aufgefallen, und genauso offenbar wunderte sich niemand, daß man die Chaims nicht mit Koffern hatte fortgehen sehen.
»Das ist dumm«, hatte Nona erwidert.
»Warum? Wolltest du sie besuchen? Kennst du sie persönlich?«
»Mein Vater kannte einen Gershom Chaim, er kannte ihn sehr gut aus seiner eigenen Jugend, und auf seinem Sterbebett bat er mich, diesen alten Freund noch einmal zu besuchen und ihm letzte Grüße auszurichten .«
Nonas Antwort entsprang purer Eingebung und konnte leicht schiefgehen. Sie wußte nicht das Geringste über Gershom Chaims Vergangenheit. Vielleicht war er ein Fremdenhasser gewesen, der Ausländer prinzipiell verabscheute. Solche Intoleranz gab es, und daß Nona nicht hier aufgewachsen war, konnte sie beim besten Willen nicht verhehlen.
»Tut mir leid, das mit deinem Vater.«
Der Mann war nett gewesen. Vielleicht netter, als es seiner Gesundheit zuträglich war .
»Es war für ihn eine Erlösung. Er hat eine lange Leidenszeit durchmachen müssen.«
»Wenn du willst, besorge ich dir die genaue Adresse, unter der sie in
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