Wolfslegende
Ramallah abgestiegen sind.«
»Danke. Es eilt nicht. Ich habe alle Zeit der Welt. Ich werde warten und mich hier in der Nähe einquartieren, bis sie zurück sind. Das gibt mir Gelegenheit, die Stadt, von der mein Vater so oft schwärmte, selbst näher kennenzulernen.«
Die Augen des Mannes hatten aufgeleuchtet. »Ich heiße Caleb. Freunde von Gershom sind auch meine Freunde. Wenn du willst, besorge ich dir ein Zimmer und zeige dir die Sehenswürdigkeiten der Stadt .« Den Blick senkend, hatte er hinzugefügt: »Aber ich will mich nicht aufdrängen.«
Nur der Form halber hatte sich Nona ein wenig geziert, dann aber eingewilligt.
Seither wohnte sie mit einem gichtkrummen alten Mann unter dem Dach eines Hauses, das schräg gegenüber dem Chaim-Laden und in nächster Nähe einer Moschee lag, von deren Minarett jeden Morgen - auch heute wieder - die Stimme des Muezzins erschallte, der die Gläubigen zum Gebet zusammenrief.
Nona hatte die Miete für eine Woche im voraus auf den Tisch geblättert. In amerikanischen Dollars, die mindestens ebenso gern akzeptiert wurden wie israelische Schekel.
Bis zum nächsten Vollmond würden noch etliche Tage verstreichen. Und an eine wirklich permanente Überwachung des Chaim-Hauses war einfach nicht zu denken. Nona schloß nicht aus, daß Landrus Mörder sich schon längst nicht mehr darin aufhielten, sondern unbemerkt weitergezogen waren. Sämtliche Türen und Fenster, auch die rückwärtigen, waren unmöglich ständig im Auge zu behalten. An ausreichender Gelegenheit, ihren Unterschlupf zu verlassen, hätte es Lilith und Anum gerade bei Nacht nicht gemangelt. Zumal sie des Fliegens mächtig waren.
Nona überlegte, wie sie - ohne sich selbst in Gefahr zu bringen oder zu erkennen zu geben - mehr über die aktuelle Situation im Chaim-Haus herausfinden konnte.
Caleb hatte in den vergangenen vier Tagen viermal bei ihr angeklopft und sein Angebot, ihr die Altstadt zu zeigen, erneuert. Jedesmal hatte sie unter Vorwänden abgelehnt und damit gerechnet, Ca-leb vor den Kopf gestoßen zu haben. Doch er schien unzermürbbar und nahm die Absagen trotz teilweise leichter Durchschaubarkeit kein einziges Mal persönlich.
Als sich in die Rufe des Muezzins auch zu dieser frühen Stunde ein Klopfen gegen die Tür von Nonas Zimmer mischte, wußte sie gleich, wer da Einlaß begehrte.
Doch sie irrte. Nicht Caleb, sondern der krumme, spindeldürre Vermieter stand draußen auf dem dämmrigen Flur, in dem ein Hau-saltar aufgebaut war, um den Nona jedesmal einen großen Bogen machte. Nicht weil das Symbol an sich sie gestört hätte, sondern weil der Gestank der ihn zierenden »Altertümer« und modernder Pflanzen kaum zu ertragen war.
»Beim Schaitan, darf ich endlich erfahren, wie lange Ihr meine Gastfreundschaft noch strapazieren wollt?« fauchte Jeb Holski ohne Gruß. »Ist es vielleicht zuviel verlangt, mit einem alten Mann darüber zu reden?«
Verdutzt starrte Nona ihn an.
Sie sah Holski nur selten. Gesprochen hatte sie ihn ebenso selten. Als Caleb sie zu ihm geführt hatte, war er ihr wie ein knorriger Einsiedler vorgekommen. Es war schon frappierend, wie sehr er den verdorrten Gewächsen auf seinem Hausaltar ähnelte. Selbst innerhalb des Hauses trug er über seinem Anzug einen Schleier, wie er den Leuten draußen bei heftigem Wind diente, um sich vor Sandflug zu schützen. Holski schien ihn nur zum Schlafen abzulegen. Vielleicht wollte er damit Fortschrittsfeindlichkeit bekunden. Immerhin hatte in seiner Jugend die Verschleierung noch einen ganz anderen Stellenwert in der arabischen Welt besessen als heute.
»Strapazieren?« echote Nona, als sie ihre Verblüffung überwunden hatte. »Ich wußte nicht, daß ich Ihnen unangenehm geworden bin. Wenn es aber so ist, werde ich noch heute -«
»Dummes Zeug!« zischte Holski und gestikulierte wild dazu. »Ich will nur, daß man mit mir spricht! Das ist mein Haus! Ich bestimme, wer hier schläft und wer nicht! Aber man darf sich wohl Gedanken über Leute machen, die so gut wie nie aus dem Haus gehen, oder? Stimmt etwas nicht? Fühlt Ihr Euch krank, unwohl? Habt Ihr -?«
»Mir geht es gut, danke. Ich bin momentan nur gern allein. Mir geht so vieles durch den Kopf.«
»Caleb sagte, Euer Vater sei gestorben.«
»Das stimmt.«
»War er alt?« »Etwa in Gershom Chaims Alter.«
»Und wie alt ist Gershom Chaim?«
Nona zuckte leicht zusammen. Zum ersten Mal fiel ihr in Jeb Holskis Gesichtsausdruck etwas auf, was ihr augenblicklich klar machte,
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