Wolfslied Roman
hatte, er könnte mich davor bewahren, etwas von mir selbst zu opfern. Er hatte nämlich alles andere als glücklich gewirkt, als mir Bruin das Messer gereicht und darauf bestanden hatte, dass ich meinen Teil der Abmachung einhalte.
Wieder berührte ich meine Haare. Marlene hatte gute Arbeit geleistet und eine Frisur kreiert, die die ungerade abgeschnittenen Strähnen so aussehen ließ, als wäre das Absicht gewesen. Red behauptete sogar, dass meine Augen jetzt größer wirkten, während mein Nacken zu seiner neuesten Lieblingsstelle geworden war.
Meine Mutter meinte lapidar, die Haare würden wieder nachwachsen, und in einem Jahr oder so sähe ich bestimmt wieder besser aus.
Ich berührte eines der Origami-Herzen. »Wofür sind die?«, wollte ich wissen.
Red trat hinter mich, um mir den Mantel abzunehmen. »Als Erstes solltest du dich mal aufwärmen. Wie ist es draußen so?«
»Kalt.«
Vier Wochen, nachdem uns die Manitus einen unnatürlichen Sommer beschert hatten, hing mir der Winter wieder derart zum Hals raus, dass ich mir fast wünschte, sie würden
ihren Zauber wiederholen. Doch dann dachte ich an den bürokratischen Aufwand, der so etwas nach sich zöge, und gab den Gedanken wieder auf.
Als Stadtratsbeauftragte und Tierärztin blieb mir ohnehin nicht viel Freizeit. Im Grunde war ich nun die Bürgermeisterin von Northside. Es stellte sich heraus, dass ich durch das Wiederbeleben Emmets zu seiner Chefin geworden war, weshalb es die Stadträte auch für das Klügste hielten, das Ganze offiziell zu machen.
»Wie war das Meeting?« Red kniete sich vor mich hin und zog mir die nassen Stiefel aus.
»Verdammt lang. Der Stadtrat diskutiert noch immer über die Zonenfrage. Aber zumindest haben wir uns geeinigt, das Maibaum-Festival zu finanzieren, und wir haben außerdem eine Vereinbarung ausgearbeitet, die den heiligen Boden am Old Scolder Mountain als Schutzgebiet ausweist.«
»Das wird Bruin freuen.« Der Bärenmanitu hatte an der Sitzung teilgenommen, um sicherzugehen, dass die Interessen der Manitus nicht zu kurz kamen.
»Er wirkte eigentlich ziemlich abwesend«, sagte ich. »Vermutlich weil Lilliana letzte Woche wieder nach New York zurückgekehrt ist.«
Red rieb sich das Kinn und überlegte. »Als Bär sollte er Mitte Februar sowieso noch seinen Winterschlaf halten.«
»Daran könnte es natürlich auch liegen. Jedenfalls …« Ich brach ab und betrachtete erneut die Origami-Herzen. Erst jetzt begriff ich, was sie bedeuteten. »Mist. Heute ist Valentinstag, nicht wahr? Ich habe eine Karte für dich, hatte aber noch keine Zeit, etwas draufzuschreiben.«
»Karten bedeuten mir sowieso nicht so viel«, erwiderte
Red, dessen Hände nun meinen Fußknöchel und meine Wade hochwanderten.
»Wie kann ich das wiedergutmachen?«
Er hielt inne. »Tja, gute Frage.«
»Apropos Fragen: Wo sind eigentlich die Hunde?«
Nachdem wir die vier riesigen Wolfshunde bei uns aufgenommen hatten, verfolgte Red seinen Plan, uns ein Wolfstraumhaus zu bauen, mit mehr Enthusiasmus als je zuvor.
»Ich habe sie zum Spielen rausgeschickt, während ich die Steaks gebraten habe.« Er stand auf, und ich schlang meine Arme um seinen Hals.
»Woher wusstest du, dass ich heute Abend Lust auf Fleisch haben würde?«
»Ein Stück deiner Seele wächst in mir heran. Schon wieder vergessen?«
Natürlich hatte ich es nicht vergessen. Wenn ich zu lange von Red getrennt war, verspürte ich eine unangenehme Leere in meiner Brust. Schwerer fiel es mir allerdings, die Tatsache nicht aus den Augen zu verlieren, dass der Mann, der mich manchmal ärgerte, weil er die Toilettenbrille hochgeklappt ließ, ein Kojote war - das liminalste der liminalen Wesen. Er war unaufhörlich zwischen den beiden Welten hin und her gependelt, bis er schließlich zu beiden gehörte oder in gewisser Weise auch zu keiner so richtig.
Soweit ich das beurteilen konnte, hatte mir Red hinsichtlich seiner Familiengeschichte die Wahrheit erzählt. Seine Mutter hatte Probleme mit Männern gehabt und irgendwann ihren Clan verlassen. Daraufhin war er von seinem Großvater in die Geheimnisse der Limmikin eingeweiht worden. Red hatte nur nicht erwähnt, dass er mehr als nur
ein Leben besaß und es bei einem Kojoten darum ging, spektakulär zu sterben und dann wiedergeboren zu werden. Es war schwer, ihn zum Reden zu bringen, aber offenbar wurde der Kojote stets den Limmikin geboren. Sie waren seine Kinder, sein Stamm. Ich fragte mich, was wohl jetzt aus ihnen werden mochte.
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