Wolfsmale
Prince Royal Hotel. »Ach ja«, sagte er, drehte sich um und
blickte beide Männer an, »würden Sie bitte mein Gepäck mitbringen?« Rebus hatte ihnen bereits
wieder den Rücken gekehrt, konnte aber beinah hören, wie beiden der Mund aufklappte. »Oder«, rief
er zurück, »soll ich Chief Inspector Laine informieren, dass zwei seiner Beamten mich an meinem
ersten Abend als sein Gast in dieser schönen Stadt belästigt haben?«
Rebus ging weiter und hörte, wie die beiden Beamten sein Gepäck aufnahmen und hinter ihm her
eilten. Dabei debattierten sie, ob sie es wagen könnten, den Streifenwagen unverschlossen zu
lassen oder nicht. Er musste trotz allem grinsen. Ein kleiner Sieg, ein bisschen Geflunker, aber
was soll's? Das hier war schließlich London. Das war Shaftesbury Avenue. Und das bedeutete
Showbiz.
Als sie endlich zu Hause war, wusch sie sich gründlich, und danach fühlte sie sich ein wenig
besser. Sie hatte aus dem Kofferraum einen schwarzen Müllsack mitgebracht. Darin waren die
Sachen, die sie getragen hatte, billiger Plunder. Morgen Abend würde sie den Garten hinterm Haus
in Ordnung bringen und ein Feuer anzünden.
Jetzt weinte sie nicht mehr. Sie hatte sich beruhigt. Hinterher beruhigte sie sich immer. Aus
einer Plastiktüte zog sie eine weitere Plastiktüte, aus der sie das blutverschmierte Messer nahm.
Das Spülbecken war voll kochendheißer schaumiger Lauge. Die Plastiktüten kamen zu den Klamotten
in den Müllsack, das Messer ins Spülbecken. Sie wusch es sorgfältig, leerte das Becken und füllte
es wieder. Die ganze Zeit summte sie vor sich hin. Es war kein bestimmtes Lied, noch nicht mal
eine richtige Melodie. Doch es beruhigte und besänftigte sie, wie es früher die Wiegenlieder
getan hatten, die ihre Mutter gesummt hatte.
Dann war es geschafft. Es war harte Arbeit, und sie war froh, damit fertig zu sein. Konzentration
war das Entscheidende. Ein Nachlassen der Konzentration, und man konnte einen Fehler machen und
dann diesen Fehler nicht bemerken. Sie spülte das Becken dreimal aus, bis auch die letzte Spur
des Blutes beseitigt war, und legte das Messer zum Trocknen auf das Ablaufbrett. Dann ging sie in
den Flur und blieb vor einer der Türen stehen, während sie nach dem Schlüssel suchte.
Das hier war ihr Geheimzimmer, ihre Bildergalerie. Drinnen war eine Wand völlig mit Ölgemälden
und Aquarellen zugehängt. Drei der Bilder waren irreparabel beschädigt. Schade, da alle drei
irgendwann mal ihre Lieblingsbilder gewesen waren. Ihr derzeitiges Lieblingsbild war ein kleines
Landschaftsgemälde mit einem Bach. Einfache, blasse Farben und im naiven Stil gemalt. Der Bach
war im Vordergrund, und an ihm saßen ein Mann und ein Junge. Es hätte auch ein Mann und ein
Mädchen sein können, schwer zu sagen. Das war das Problem bei der naiven Malerei. Und die
Künstlerin konnte sie auch nicht mehr danach fragen, denn die Künstlerin war seit Jahren
tot.
Sie versuchte, nicht auf die andere Wand zu schauen, die Wand direkt gegenüber. Das war eine
furchtbare Wand. Ihr gefiel nicht, was sie aus einem Augenwinkel dort sehen konnte. Sie
beschloss, dass es das Format war, was ihr an ihrem Lieblingsbild gefiel. Es war fünfundzwanzig
mal dreißig Zentimeter, ohne den ziemlich barocken Goldrahmen (der überhaupt nicht dazu passte -
ihre Mutter hatte nie einen guten Geschmack gehabt, was Rahmen betraf). Die zierlichen
Dimensionen zusammen mit den verwaschenen Farben gaben dem Ganzen eine Unaufdringlichkeit und
einen Mangel an Vision, eine Demut und eine Sanftheit, die ihr gefielen.
Natürlich stellte dieses Gemälde keine große Wahrheit dar. Im Gegenteil, es war eine ungeheure
Lüge, die absolute Verkehrung der Tatsachen. Es hatte nie einen Bach gegeben, keine rührende
Szene mit Vater und Kind. Es hatte nur Horror gegeben. Deshalb war Velázquez ihr Lieblingsmaler:
das Spiel der Schatten, Schwarz in allen Schattierungen, Totenschädel und Misstrauen... das
dunkle Herz bloßgelegt.
»Das dunkle Herz.« Sie nickte vor sich hin. Sie hatte Dinge gesehen, Dinge gespürt, wie sie nur
wenige je zu Gesicht bekamen. Das war ihr Leben. Das war ihre Existenz. Und das Gemälde begann,
sich, über sie lustig zu machen, der Bach verwandelte sich in ein grausames türkisfarbenes
Grinsen.
Ganz ruhig und wieder vor sich hin summend, nahm sie eine Schere von einem Stuhl in ihrer Nähe
und begann, das Bild mit regelmäßigen senkrechten Hieben zu zerfetzen, dann mit waagerechten
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