Wolfsmale
Höhlen.
»Wohin als Nächstes?«, fragte Rebus, während er die Beifahrertür öffnete.
»Zur Kilmore Road«, sagte Flight und tauschte einen Blick mit Rebus, der besagte, dass ihm die
Ironie des Namens durchaus bewusst war.
»Dann zur Kilmore Road«, sagte Rebus und stieg ins Auto.
Der Tag hatte früh begonnen. Als Rebus nach drei Stunden Schlaf aufwachte und nicht wieder
einschlafen konnte, hatte er in seinem Zimmer das Radio eingeschaltet und sich die
Morgennachrichten angehört, während er sich anzog. Da er nicht genau wusste, was der Tag bringen
würde, zog er sich leger an: hellbraune Cordhose, leichte Jacke und Hemd. Heute keinen Tweed und
keine Krawatte. Er hätte gerne ein Bad genommen, doch das Badezimmer auf seiner Etage des Hotels
war abgeschlossen. Er würde an der Rezeption fragen müssen. Neben der Treppe stand eine
automatische Schuhputzmaschine. Er polierte die Spitzen seiner abgetragenen schwarzen Schuhe,
bevor er zum Frühstück hinunterging.
Im Restaurant herrschte reger Betrieb. Die meisten Gäste sahen wie Geschäftsleute oder Touristen
aus. Auf einem freien Tisch lagen die aktuellen Ausgaben der Tageszeitungen, und Rebus nahm sich
einen »Guardian«, bevor er von der gestressten Kellnerin an einen Tisch geführt wurde, der für
eine Person gedeckt war.
Das Frühstück war im Wesentlichen Selbstbedienung. In der Mitte des Raums stand ein Büfett, auf
das man Säfte, Frühstücksflocken und Obst gepackt hatte. Eine Kanne Kaffee landete ungefragt auf
seinem Tisch, ebenso ein Ständer mit kalten, leicht gebräunten, halbierten Toastscheiben.
Die sehen aus, als hätte man sie bloß mal kurz vor einer Glühbirne geschwenkt, dachte Rebus,
während er sich ein Stückchen Butter auf eines dieser jämmerlichen Dreiecke schmierte.
Das komplette Englische Frühstück bestand aus einer Scheibe Speck, einer warmen Tomate (aus der
Dose), drei kleinen Champignons, einem blässlichen Ei und einem merkwürdigen kleinen Würstchen.
Rebus schlang alles gierig hinunter. Der Kaffee war ihm eigentlich nicht stark genug, trotzdem
trank er die Kanne leer und bestellte eine neue. Dabei blätterte er die ganze Zeit in der
Zeitung, doch erst bei der zweiten Durchsicht fand er etwas über den Mord am gestrigen Abend -
ein kurzer, auf die nackten Fakten beschränkter Absatz unten auf Seite vier.
Nackte Fakten. Er sah sich um. Ein verlegen aussehendes Paar versuchte, seine beiden lärmenden
Kinder zur Ruhe zu bringen. Tut's nicht, dachte Rebus, unterdrückt sie nicht, lasst sie leben.
Wer weiß, was morgen passiert. Sie könnten getötet werden. Die Eltern könnten getötet
werden.
Seine eigene Tochter war irgendwo hier in London, lebte mit seiner Exfrau in einer Wohnung. Er
sollte sich bei ihnen melden. Er würde sich bei ihnen melden. An einem Ecktisch raschelte ein
Geschäftsmann laut mit seiner Boulevardzeitung, was Rebus' Aufmerksamkeit auf die Schlagzeile
lenkte.
WOLFSMANN BEISST WIEDER ZU.
Ah, das war schon eher was. Rebus griff nach der letzten halben Scheibe Toast und musste
feststellen, dass er keine Butter mehr hatte. In dem Moment landete eine Hand von hinten schwer
auf seiner Schulter, sodass er vor Schreck den Toast fallen ließ. Er drehte sich um und sah
George Flight dastehen.
»Morgen, John.«
»Hallo, George. Gut geschlafen?« Flight zog den Stuhl Rebus gegenüber heraus, ließ sich schwer
darauf nieder und legte die Hände in den Schoß.
»Nicht so toll. Und Sie?«
»Ich hab ein paar Stündchen geschafft.« Rebus wollte gerade erzählen, wie er auf der Shaftesbury
Avenue beinah verhaftet worden war, doch dann beschloss er, sich das für später aufzubewahren. Es
könnte der Moment kommen, wo sie eine lustige Geschichte gut gebrauchen konnten. »Möchten Sie
einen Kaffee?«
Flight schüttelte den Kopf und musterte prüfend das Büfett. »Ein bisschen Orangensaft wär
allerdings nicht schlecht.« Rebus wollte gerade aufstehen, doch Flight deutete ihm an, sitzen zu
bleiben, stand auf, holte sich ein Glas voll, das er in einem Zug austrank. Er kniff die Augen
zusammen. »Schmeckt ziemlich künstlich«, sagte er. »Geben Sie mir lieber doch `nen Kaffee.«
Rebus schenkte ihm eine Tasse ein. »Haben Sie das gesehen?«, fragte er und deutete mit dem Kopf
zu dem Ecktisch. Flight warf einen Blick auf das Boulevardblatt und lächelte.
»Nun ja, jetzt ist es deren Geschichte genauso wie unsere. Der einzige Unterschied ist, wir
versuchen, sachlich und nüchtern zu bleiben.«
»Ich
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