Wolfsmale
der Wolfsmann in seinem sozialen und beruflichen Leben
genauso verhält. Es besteht außerdem die Möglichkeit, dass er seinen Opfern nicht in die Augen
sehen kann, aus Angst, dass ihre Angst sein Szenario zerstören könnte.«
Rebus schüttelte den Kopf. Zeit für ein Geständnis. »Ich kann Ihnen nicht mehr folgen.«
Sie schien erstaunt. »Ganz einfach, er führt einen Racheakt aus, und für ihn repräsentieren die
Opfer das Individuum, an dem er Rache nimmt. Würde er ihnen von Angesicht zu Angesicht
gegenübertreten, dann würde ihm klar, dass das überhaupt nicht die Person ist, der sein Hass
gilt.«
Rebus verstand immer noch nicht so ganz. »Dann sind diese Frauen also nur ein Ersatz für jemand
anders?«
»Ja, sie haben eine Ersatzfunktion.«
Er nickte. Jetzt wurde es allmählich interessant, so interessant, dass er den Blick von Lisa
Frazer abwandte, um sich besser auf ihre Worte konzentrieren zu können. Sie hatten erst die
Hälfte ihrer Karten besprochen.
»So viel zum Wolfsmann«, sagte sie und blätterte zur nächsten Karte.
»Auch der gewählte Ort kann eine Menge über die Psyche des Täters aussagen, ebenso Alter,
Geschlecht, Rasse und soziale Schicht des Opfers. Sie werden bemerkt haben, dass es alles Frauen
sind, dass es sich größtenteils um ältere Frauen handelt, Frauen in mittleren Jahren, und dass
drei von vieren Weiße waren. Ich muss zugeben, dass ich aus diesen Fakten allein nicht viel
herausholen kann. Doch gerade das Fehlen eines erkennbaren Musters hat mich dazu veranlasst,
etwas genauer über die Lokalitäten nachzudenken. Wissen Sie, wenn sich gerade ein Muster
abzuzeichnen scheint, dann kommt es häufiger vor, dass ein Element auftaucht, das das Muster in
Frage stellt - der Mörder greift eine viel jüngere Frau an oder schlägt früher am Abend zu oder
sucht sich ein schwarzes Opfer.«
Oder, dachte Rebus, tötet nicht bei Vollmond.
»Ich habe deshalb angefangen, über das räumliche Paradigma der Überfälle nachzudenken«, fuhr sie
fort. »So etwas kann dazu beitragen, festzustellen, wo der Mörder vielleicht als Nächstes
zuschlägt, oder sogar, wo er wohnt.« Rebus zog die Augenbrauen hoch. »Doch, John, das hat sich in
mehreren Fällen als richtig erwiesen.«
»Daran zweifele ich nicht. Ich hab nur wegen des Ausdrucks räumliches Paradigma die Stirn
gerunzelt.« Ein Ausdruck, den er schon einmal gehört hatte, nämlich in dem verhassten
Management-Kurs.
Sie lächelte. »Ja, dieser Jargon. Damit wird reichlich rumgeschmissen. Was ich meine, sind sich
wiederholende Merkmale bei den Mordschauplätzen. Ein Treidelpfad, eine Eisenbahnlinie, eine
nahegelegene U-Bahn-Station. Drei der vier Fälle haben sich also in der Nähe eines
Transportsystems ereignet, doch der vierte Fall passt mal wieder nicht ins Muster. Alle vier
ereigneten sich nördlich des Flusses. Hier ist zumindest ein gewisses Muster zu erkennen. Aber -
und darauf möchte ich eigentlich hinaus - hinter dem Fehlen eines Musters scheint mir eine
bewusste Absicht zu stecken. Der Wolfsmann sorgt dafür, dass es so wenig Fakten wie möglich gibt,
an die man sich halten kann. Das könnte auf ein hohes Maß an psychischer Reife hindeuten.«
»Ja, er ist so reif, wie ein Wahnsinniger es nur sein kann.« Sie lachte. »Ich meine das
ernst.«
»Das weiß ich.«
»Es gibt noch eine andere Möglichkeit.«
»Was für eine?«
»Der Wolfsmann weiß, wie man keine Spur hinterlässt, weil er über Polizeiarbeit Bescheid
weiß.«
»Darüber Bescheid weiß?«
Sie nickte. »Besonders darüber, wie bei Serienmorden ermittelt wird.«
»Sie wollen damit sagen, er ist Polizist?«
Sie lachte wieder und schüttelte den Kopf. »Ich will damit sagen, dass er vielleicht vorbestraft
ist.«
»Na ja« - Rebus dachte an den Ordner, den George Flight ihm vor ein paar Stunden gezeigt hatte -
»wir haben bereits über hundert ehemalige Straftäter überprüft. Ohne Erfolg.«
»Aber Sie können unmöglich mit jedem Mann gesprochen haben, der je wegen Vergewaltigung, schwerer
Körperverletzung und Ähnlichem verurteilt wurde.«
»Das ist richtig. Aber etwas scheinen Sie übersehen zu haben - die Bissabdrücke. Das sind sehr
konkrete Hinweise. Wenn der Wolfsmann so clever ist, warum hinterlässt er uns dann jedes Mal
einen ordentlichen Abdruck von seinem Gebiss?«
Sie blies in ihren Tee, damit er abkühlte. »Vielleicht sind die Abdrücke der Zähne ja - wie nennt
man das - eine bewusste Irreführung?«
Rebus dachte darüber
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