Wolfsmale
nach. »Das ist möglich«, räumte er ein, »aber da ist noch was. Ich war heute
bei einem Dentalpathologen. Er meinte, dass er nach den Abdrücken der Zähne die Möglichkeit nicht
ausschließen könnte, dass der Wolfsmann eine Frau ist.«
»Tatsächlich?« Sie bekam große Augen. »Das ist sehr interessant. Das hatte ich überhaupt nicht in
Betracht gezogen.«
»Wir auch nicht.« Er löffelte noch mehr Reis in seine Schüssel. »Jetzt erzählen Sie mir doch mal,
warum beißt er - oder sie - die Opfer überhaupt?«
»Darüber habe ich sehr viel nachgedacht.« Sie schlug ihre letzte Karteikarte auf. »Die
Bissabdrücke sind immer auf dem Bauch, dem weiblichen Bauch, Träger des Lebens. Vielleicht hat
der Wolfsmann ein Kind verloren, oder vielleicht wollten seine Eltern ihn nicht haben und haben
ihn zur Adoption freigegeben, und er ist immer noch wütend deswegen. Ich weiß es nicht. Viele
Serienkiller stammen aus zerrütteten Familien.«
»Hm. Darüber hab ich in den Büchern gelesen, die Sie mir gegeben haben.«
»Tatsächlich? Sie haben sie gelesen?«
»Letzte Nacht.«
»Und was halten Sie davon?«
»Ich fand es ziemlich intelligent, zum Teil genial.«
»Aber halten Sie die Theorien denn für brauchbar?«
Rebus zuckte die Achseln. »Das werd ich Ihnen sagen, wenn wir den Wolfsmann erwischt
haben.«
Sie stocherte wieder in ihrem Essen herum, aß aber nichts. Das Fleisch in ihrer Schüssel sah
schon kalt und gallertartig aus. »Was ist mit den Verletzungen im Analbereich, John? Haben Sie da
irgendeine Theorie?«
Rebus dachte darüber nach. »Nein«, sagte er schließlich, »aber ich kann mir vorstellen, was ein
Psychiater dazu sagen würde.«
»Ja, aber denken Sie dran, dass Sie keine Psychiaterin vor sich haben. Ich bin
Psychologin.«
»Wie könnte ich das nur vergessen? Sie schreiben in Ihrem Aufsatz, dass man in den USA von
dreißig Serienkillern weiß, die dort ihr Unwesen treiben. Ist das wahr?«
»Ich habe diesen Aufsatz vor über einem Jahr geschrieben. Mittlerweile sind es vermutlich mehr.
Beängstigend, was?«
Er zuckte die Achseln, um ein Schaudern zu kaschieren. »Wie schmeckt Ihnen das Essen?«, fragte
er.
»Was?« Sie sah auf ihre Schüssel. »Oh, ich hab eigentlich gar keinen richtigen Hunger. Ehrlich
gesagt, ich fühle mich ein bisschen... als hätte man mir die Luft rausgelassen oder so. Ich
dachte, ich hätte alles so toll zusammengesetzt, doch jetzt, wo ich es Ihnen erzähle, merke ich,
dass da doch nicht so viel dran ist.« Sie blätterte die Karteikarten durch.
»Da ist eine ganze Menge dran«, sagte Rebus. »Ich bin beeindruckt, ehrlich. Jedes kleine
Stückchen hilft uns weiter. Und Sie halten sich an die bereits bekannten Tatsachen, das gefällt
mir. Ich hatte eigentlich mehr Jargon befürchtet.« Er erinnerte sich an die Fachbegriffe aus
einem ihrer Bücher, dem von MacNaughtie. »Latente Psychomanie, Ödipuskomplex, blablabla.«
»Davon könnte ich Ihnen reichlich präsentieren«, sagte sie, »aber ich möchte bezweifeln, dass es
weiterhelfen würde.«
»Genau.«
»Außerdem liegt das mehr auf der Linie der Psychiatrie. Psychologen halten sich eher an
Triebtheorien, umweltbedingtes Lernen, mehrphasige Persönlichkeitsentwicklung.« Rebus hielt sich
mit beiden Händen die Ohren zu.
Sie lachte wieder. Er konnte sie so leicht zum Lachen bringen. Vor langer Zeit hatte er auch
Rhona zum Lachen bringen können und nach Rhona eine gewisse Pressesprecherin oben in Edinburgh.
»Wie ist es denn mit Polizisten?«, fragte er und verdrängte die Erinnerung. »Was haben die
Psychologen über uns zu sagen?«
»Nun ja«, sagte sie und nahm eine entspanntere Haltung an. »Polizisten sind extrovertiert,
realistisch und konservativ.«
»Konservativ?«
»Im allgemeinen Sinn.«
»Letzte Nacht hab ich gelesen, dass Serienkiller auch konservativ sind.«
Sie nickte, immer noch lächelnd. »O ja«, sagte sie, »da bestehen eine Menge Parallelen. Doch mit
konservativ meine ich konkret, dass Polizisten gegen alles sind, das den Status quo verändert.
Deshalb seid ihr auch so skeptisch, was den Einsatz der Psychologie betrifft. Das bringt die
strengen Richtlinien durcheinander, die ihr euch gesetzt habt. Stimmt's?«
»Ich glaube, darüber könnte man sich streiten, aber das will ich nicht. Also, was passiert denn
nun, nachdem Sie den Wolfsmann analysiert haben?«
»Bisher hab ich ja nur an der Oberfläche gekratzt.« Ihre Hände lagen immer noch auf den
Karteikarten. »Es müssen
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