Wolfsmale
ohne dass ihm das Ding zwischen den Stäbchen wegrutschte und auf den Tisch fiel, wo
es einen Soßenfleck hinterließ. Je häufiger das passierte, desto frustrierter wurde er, und je
frustrierter er wurde, desto häufiger passierte es.
Schließlich ließ er sich eine Gabel geben.
»Mein Koordinierungsvermögen ist völlig weg«, erklärte er. Sie lächelte verständnisvoll (oder war
es mitfühlend?) und schenkte ihm noch mehr Tee in seine winzige Tasse. Er merkte, dass sie
ungeduldig darauf wartete, ihm von ihren bisherigen Erkenntnissen über den Wolfsmann zu
berichten. Bei der Krebsfleischsuppe, die sie als ersten Gang aßen, war das Gespräch vorsichtig
und zurückhaltend gewesen. Man hatte über Vergangenes und Zukünftiges geredet, nicht über die
Gegenwart. Nun stach Rebus seine Gabel in ein Stück Fleisch, das keinen Widerstand leistete.
»Also, was haben Sie herausgefunden?«
Sie vergewisserte sich mit einem fragenden Blick, ob sie nun wirklich anfangen sollte. Als er
nickte, legte sie ihre Stäbchen hin; dann entfernte sie die Büroklammer von den Karteikarten und
räusperte sich. Sie las eigentlich nicht von den Karten vor, sondern benutzte sie nur
gelegentlich als Gedächtnisstütze.
»Das Erste, was ich aufschlussreich fand«, sagte sie, »war das Salz auf den Leichen der Opfer.
Ich weiß, dass einige Leute das für Schweißreste halten, aber ich bin der Meinung, dass es sich
um Tränenspuren handelt. Man kann eine Menge aus der interpersonellen Beziehung eines Mörders
oder einer Mörderin zu seinem oder ihrem Opfer lernen.« Da war es wieder: seinem oder ihrem.
Ihrem. »Für mich deuten die Tränenspuren auf Schuldgefühle beim Täter hin, und zwar auf Schuld,
die nicht im Nachhinein, sondern bereits während der Tat empfunden wird. Das gibt dem Wolfsmann
eine moralische Dimension und zeigt, dass er beinah gegen seinen Willen getrieben wird. Es mag
hier auch Anzeichen von Schizophrenie geben, dass also die dunkle Seite des Wolfsmanns nur zu
bestimmten Zeiten hervortritt.«
Sie wollte schon weiterreden, doch Rebus konnte das alles gar nicht so schnell verdauen. Er
unterbrach sie. »Ihrer Meinung nach könnte also der Wolfsmann die meiste Zeit so normal
erscheinen wie Sie und ich?«
Sie nickte lebhaft. »Ich meine sogar, dass der Wolfsmann zwischen den einzelnen Taten nicht nur
so normal erscheint wie irgendjemand, sondern dass er normal ist. Deshalb ist er auch so schwer
aufzuspüren. Er läuft nicht mit dem Wort Wolfsmann auf die Stirn tätowiert durch die
Gegend.«
Rebus nickte bedächtig. Indem er so tat, als konzentriere er sich auf ihre Worte, hatte er einen
Vorwand, ihr Gesicht zu betrachten, es mit Blicken zu verzehren, die effektiver waren als jedes
Besteck. »Fahren Sie fort«, sagte er.
Sie blätterte eine Karte um und ging, nachdem sie tief durchgeatmet hatte, zur nächsten über.
»Dass das Opfer nach dem Tod missbraucht wird, deutet darauf hin, dass der Wolfsmann nicht das
Bedürfnis hat, sein Opfer unter Kontrolle zu bringen. Bei einigen Serienkillern ist das Element
der Kontrolle besonders wichtig. Nur wenn sie töten, haben diese Leute das Gefühl, ihr Leben
irgendwie unter Kontrolle zu haben. Das ist bei dem Wolfsmann nicht der Fall. Der Mord selbst
geschieht relativ schnell und verursacht nur wenig Schmerz oder Leiden. Sadismus spielt hier also
keine Rolle. Es ist eher so, dass der Wolfsmann an der Leiche ein bestimmtes Szenario
durchspielt.«
Wieder rauschte der Schwall von Wörtern, ihre Energie, der Drang, ihre Ergebnisse mit ihm zu
teilen, an Rebus vorbei. Wie sollte er sich denn konzentrieren, wenn sie so nah bei ihm war, so
nah und so schön. »Was meinen Sie damit?«
»Das wird gleich klarer.« Sie hielt inne, um einen Schluck Tee zu trinken. Ihr Essen hatte sie
kaum angerührt, der Haufen Reis in ihrer Schüssel hatte nur eine winzige Delle. Auf ihre Art,
wurde Rebus klar, war sie genauso nervös wie er, nur nicht aus den gleichen Gründen. Im
Restaurant herrschte viel Betrieb, doch es hätte genauso gut leer sein können. In dieser Nische
waren sie in ihrer eigenen Welt. Rebus trank einen Schluck von dem immer noch glühend heißen Tee.
Tee! Für ein kühles Glas Weißwein hätte er einen Mord begehen können.
»Interessant fand ich«, sagte sie gerade, »dass der Pathologe, Dr. Cousins, glaubt, dass der
Wolfsmann seine Opfer immer von hinten angreift. Damit vermeidet er die direkte Konfrontation,
und es ist wahrscheinlich, dass sich
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