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Wolfspfade 6

Wolfspfade 6

Titel: Wolfspfade 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lori Handeland
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Ich sprach ein bisschen lauter und schob mich dabei ein Stück weiter ins Zimmer.
    „Nein!“ Um sich tretend kämpfte er darum, sich aufzusetzen, so als würde ihn jemand auf das Bett drücken.
    Was konnte ich tun? Der Klang meiner Stimme schien seinen Zustand nur zu verschlimmern.
    Verunsichert hielt ich inne. Sollte ich ihn wachrütteln? Das kam mir selbst für meine Verhältnisse gewagt vor. Ich biss mir auf die Lippe und trat von einem Fuß auf den anderen, als er plötzlich aufhörte zu zucken und das Gesicht zur Tür drehte. „Anne?“
    Ich spielte mit dem Gedanken, wortlos in mein eigenes Zimmer zu flüchten, doch das wäre feige gewesen, ergo verbot ich es mir.
    „Bitte entschuldigen Sie“, stammelte ich. „Ich habe ein Geräusch gehört. Ich wusste nicht, dass Sie hier wohnen.“
    Er setzte sich auf, griff nach dem Laken und zog es über seinen Schoß. Die Bewegung bewirkte jedoch nur, dass mein Blick dem weißen Stoff vorauseilte und an etwas haften blieb, das ebenfalls recht hübsch anzusehen war. Ich musste mich dringend flachlegen lassen – und das möglichst bald, bevor ich noch etwas wirklich Dummes tat.
    „Ich … äh …“ Rodolfo legte die Hand an seine Stirn; er trug seine Sonnenbrille nicht. Dies war das erste Mal, dass ich ihn ohne sie sah, und mir fiel auf, wie viel jünger er selbst mit geschlossenen Augen wirkte.
    Eigenartig. Warum hielt er sie geschlossen? Es sei denn …
    Bevor ich mich stoppen konnte, zuckte vor meinem geistigen Auge die Vision vorbei, wie er seine Lider aufschlug und dahinter leere Augenhöhlen zum Vorschein kamen. Ich fuhr zusammen und wandte mich ab. Dass der Mann nicht sehen konnte, gab mir noch lange nicht das Recht, ihn anzustarren, während er unbekleidet und vom Schlaf benommen war.
    „Ich habe oft Kopfschmerzen“, erklärte er. „Dann ziehe ich mich nach hier oben zurück und lege mich hin.“
    „Migräne?“, fragte ich, während er auf dem Nachttisch nach seiner Brille tastete und sie aufsetzte.
    „Mmm.“
    Ich musste hier raus; der arme Mann erholte sich gerade von einem Migräneanfall. Ich hatte noch nie einen gehabt, meine Mutter hingegen schon, und wann immer sie hinterher aufwachte, war sie benommen von den Schmerzen, wenn nicht von den Medikamenten.
    Stattdessen trat ich näher. „Leiden Sie schon lange daran?“
    „Nein.“ Er lächelte kläglich. „Die Kopfschmerzen sind eine neue Errungenschaft.“
    Da klingelte es bei mir. Ein Schädeltrauma konnte Blindheit zur Folge haben und würde auch die Migräneanfälle erklären.
    „Haben Sie Ihr Augenlicht durch ein Trauma verloren?“
    Er stieß ein Ächzen aus, das überrascht klang und … belustigt? „Ein Trauma?“, echote er. „Ja, ich schätze, so könnte man es nennen.“
    Ich wartete, dass er das genauer erläuterte, aber er blieb stumm, deshalb bohrte ich weiter. Ich konnte nicht anders. „Was ist geschehen?“
    „Nichts, worüber ich reden möchte“, wiegelte er ab.
    Ich öffnete den Mund und klappte ihn wieder zu. Ich brachte es nicht über mich, ihn weiter zu bedrängen. Offensichtlich gab es selbst für mich eine Grenze, wie weit ich mich von meiner Neugier mitreißen lassen würde.
    „Besteht die Hoffnung, dass die Kopfschmerzen irgendwann wieder verschwinden?“, fragte ich.
    „Nicht, wenn sie die Strafe für meine Sünden sind.“
    „Wie bitte?“
    „Nur ein Witz. Vergessen Sie’s einfach.“
    Er stand auf, wickelte das Laken um seine Hüften und steckte es mit einem schnellen, geübten Handgriff fest. Danach trottete er zum Waschbecken, spritzte sich kaltes Wasser auf die Wangen und strich sich die Haare so straff nach hinten, dass Tropfen nach allen Seiten davonstoben und wie Regen auf den alten Holzboden prasselten.
    „Macht es Sie nervös, mit mir allein zu sein?“, fragte er.
    Ich wandte den Blick vom Boden zu seinem Gesicht. Die Sonnenbrille verdeckte seine Augen. Wer auch immer den Ausdruck „Fenster zur Seele“ geprägt hatte, wusste, wovon er sprach. Rodolfos Augen nicht sehen zu können, machte mich allmählich rasend. Die verspiegelten Gläser erweckten den Eindruck, als besäße er keine Seele.
    Ich stieß ein kurzes, verächtliches Lachen aus – als Antwort auf meine Gedanken wie auf seine Frage. „Nein“, behauptete ich. „Und selbst wenn das der Fall wäre, ist dies Ihr Haus. Sie können sich darin aufhalten, wann immer es Ihnen beliebt.“
    „Ich habe ein Apartment auf der St. Ann. Allerdings benutze ich es nicht oft. Es ist einfacher …“

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