Wolfspfade 6
aufgestoßen – für den Fall, dass sich jemand dahinter versteckte – und das Licht angeknipst.
Der Raum war leer, staubig und unbewohnt. Allerdings brannte in der Ecke eine einzelne Kerze.
Ich hatte sie nicht angezündet. Ich blinzelte zur Decke hoch. Irgendwie bezweifelte ich auch, dass Rodolfo es getan hatte. Andererseits …
Mit dem Vorsatz, die Flamme zu löschen, schlich ich näher – es wäre definitiv keine gute Idee, sie einfach brennen zu lassen –, und dabei fielen mir mehrere Dinge auf: Das Wachs war zu einer schimmernden Lache geschmolzen, was darauf hindeutete, dass der Docht bereits vor Stunden entzündet worden war. Die Kerze stand auf einem niedrigen Tisch und war umringt von Steinen, Federn und winzigen Schnitzereien – ein Hund, eine Katze, ein Schwein und ein Huhn. Hätte ich es nicht besser gewusst, wäre ich zu dem Schluss gelangt, im Spielzimmer eines Kindes gelandet zu sein. Nur dass dem Ganzen etwas vage Beunruhigendes – unheilvoll und heilig zugleich – anhaftete.
Der niedrige Tisch und die Kerze ließen an einen Altar denken, aber die anderen Dinge erinnerten eher an …
Voodoo?
Möglich.
Ich wusste so gut wie nichts über diese Religion; das hier könnte damit in Zusammenhang stehen. Oder mit etwas völlig anderem.
Obwohl meine Anspannung wuchs, während ich mich der Kerze näherte, zwang ich mich, zu ihr zu gehen, mich nach unten zu beugen und sie auszublasen.
Ffft . Die Flamme erlosch.
Dann bemerkte ich die dunklen, feuchten Streifen, die die hölzerne Tischplatte verunzierten. In dem hellen Licht sahen sie aus wie Blut.
„Das kann nicht sein“, entfuhr es mir, aber daran, wie meine Stimme zitterte, erkannte ich, dass es doch sein konnte und vermutlich auch so war.
Ich sollte die Polizei verständigen, aber das Rising Moon gehörte nicht mir, und was, wenn in New Orleans ein Altar wie dieser gang und gäbe wäre? Was, wenn er dazu gedacht war, zu schützen oder Erfolg zu bringen oder einfach nur dazu, den Mardi Gras willkommen zu heißen?
Mit dem ebenso spontanen wie festen Entschluss, das Ding King zu zeigen, bevor ich am Ende noch eine Dummheit beging, trat ich den Rückzug an. Es stand schließlich nicht zu befürchten, dass der Altar einfach davonspazieren würde. Behutsam zog ich die Tür hinter mir zu und lief zu meinem Zimmer.
Die Kerze und die Dekoration würden am Morgen immer noch da sein.
Bloß dass dem nicht so war. Ich weiß nicht, weshalb mich das überraschte.
Kaum dass ich im Erdgeschoss eine Tür ins Schloss fallen hörte, stand ich auf, zog meine inzwischen nicht mehr taufrischen Klamotten über und schlüpfte aus dem Zimmer, dann lugte ich auf dem Weg nach unten durch die Tür, hinter der ich letzte Nacht den Altar entdeckt hatte.
Er war nicht mehr da.
Um ganz sicherzugehen, überprüfte ich auch noch die anderen Zimmer, mein eigenes mit eingeschlossen.
Nada.
Wer war jetzt verrückt?
Ich überlegte, ob ich King erzählen sollte, was ich gesehen hatte, aber was würde das bringen? Die Ereignisse von letzter Nacht bekamen – inklusive meiner Knutscherei mit John Rodolfo – allmählich etwas Surreales. Vielleicht hatte ich mir ja alles nur eingebildet.
Also beschloss ich, meine Entdeckung lieber für mich zu behalten. Schließlich konnte auch King der Serienkiller sein – selbst wenn die Chance nicht besonders hoch war. Aus Gründen, die niemand so genau erklären kann, tendieren Serienmörder dazu, weiße Männer mittleren Alters zu sein.
Dessen ungeachtet konnte er durchaus der Erbauer des Altars sein. Falls das Ding eine religiöse Bedeutung hatte, ging mich das Ganze nichts an. Falls es etwas Unheilvolles war, wollte ich es nicht wissen.
Vermutlich sollte ich Sullivan einweihen, aber ohne einen Beweis, dass der Altar je existiert hatte, konnte ich mir die Mühe sparen.
Da ich nun kein dringendes Bedürfnis mehr verspürte, King zu sehen, kuschelte ich mich wieder ins Bett. Als ich am Nachmittag aufwachte, erwartete mich vor meiner Tür ein Federal-Express-Paket voll hübscher, sauberer Kleidung. Ich nahm eine Dusche, zog ein Paar Baumwollshorts und ein T-Shirt an, dann schnappte ich mir Sullivans Akte und machte mich, ohne auch nur nachzusehen, ob sich im Rising Moon schon etwas regte, auf den Weg zu einem Internetcafé, das ich auf der Chartres Street entdeckt hatte.
Eine bunte Mischung aus Einheimischen und Touristen bevölkerte die jenseits der Hauptverkehrsstraße in einem umzäunten Garten aufgestellten Tische. Im Inneren
Weitere Kostenlose Bücher