Wolfspfade 6
getan hätte, wäre aus mir keine Privatdetektivin geworden. Damals, mit zwanzig, als ich gerade das zweite Jahr am College absolvierte und noch immer nicht den Hauch einer Ahnung hatte, welchen Abschluss ich machen sollte, war es mir als eine gute Idee erschienen, eine Weile auszusetzen und für Matt Hawkins zu jobben, jenen Privatdetektiv, den meine Eltern mit der Suche nach Katie beauftragt hatten. Er war alt, er brauchte Hilfe, außerdem war es meine Schuld, dass sie überhaupt vermisst wurde.
Na ja, nicht im buchstäblichen Sinn. Wir hatten einen typisch dummen Streit unter Geschwistern gehabt, dann war sie einfach davonstolziert. Ich hätte ihr hinterhergehen sollen; zumindest hätte ich sie, so wie abgemacht, später an jenem Abend treffen sollen. Aber ich war sauer gewesen; also hatte ich sie versetzt und seither nie mehr gesehen.
Ich war nicht mehr ans College zurückgekehrt. Matt hatte mir sein Geschäft überlassen, als er vergangenes Jahr in Rente gegangen war. Hin und wieder half er aus – wie beispielsweise jetzt –, wenn ich die Stadt verlassen musste, um einem Hinweis nachzugehen. Praktischerweise war mein letzter Fall gerade abgeschlossen, und Matt konnte sich um sämtliche Aufträge kümmern, die während der wenigen Tage, die ich unterwegs sein würde, möglicherweise hereinkamen.
Zwischen zwei Türen, auf denen „Messieurs“ beziehungsweise „Mesdemoiselles“ stand, befand sich eine dritte mit der Aufschrift Privat. Ich fragte mich, wo wohl die „Mesdames“ pinkelten.
Die meisten Menschen würden zögern, bevor sie durch eine als privat gekennzeichnete Tür stürmten, aber für mich galt das nicht. Ich war noch nie ein Ausbund an Höflichkeit gewesen – auch nicht, bevor ich meine Lizenz zum Schnüffeln erworben hatte –, folglich drehte ich einfach den Knauf und trat ein.
Das Zimmer war stockfinster. Allem Anschein nach war Rodolfo ausgeflogen. Ich wollte schon wieder gehen, als aus den Tiefen der Dunkelheit ein leiser Fluch ertönte, der mich nach dem Lichtschalter tasten ließ.
Das grelle elektrische Licht blendete mich, und ich blinzelte. Auf den Mann hinter dem Schreibtisch traf das nicht zu. Er trug noch immer seine Sonnenbrille.
Einen verwirrten Moment lang stöberte mein Gehirn nach einer Erklärung, warum er mit einer dunklen Brille auf der Nase in einem dunklen Zimmer saß. Dann durchzuckte mich die Erkenntnis wie ein Blitz, der heller war als das Neonlicht.
Er war blind.
„Können Sie nicht lesen?“ Sich mit seinen langen, geschmeidigen Fingern an der Tischkante entlanghangelnd, kam der Mann um den Schreibtisch herum. „Die Aufschrift ‚Privat‘ ist wohl eindeutig. Die Toiletten liegen zu beiden Seiten dieser Tür.“
„Ich … äh … Entschuldigung.“
„Angenommen. Und jetzt hauen Sie ab.“
Seine groben, mit diesem sexy Knurren von einer Stimme ausgestoßenen Worte bewirkten, dass ich die Augen aufriss. „Ich habe nicht nach der Toilette gesucht. Ich wollte …“
Ich verstummte. Hatte ich nach ihm gesucht? Ich war mir nicht sicher.
„Einen schnellen Fick mit dem Saxophonisten? Heute nicht, chica , ich habe Kopfschmerzen.“
Flinker als ein Mann, der nicht sehen konnte, dies hätte tun sollen, überwand er die kurze Distanz, die uns trennte. Dann packte er meinen Arm mit einem erstaunlichen Minimum an Unbeholfenheit, bevor er versuchte, mich zur Tür zu ziehen.
Ich rührte mich nicht vom Fleck. Zwar war ich mindestens zehn Zentimeter kleiner als er, mit seinen geschätzten ein Meter achtzig, und vermutlich fünfzehn Kilo leichter, trotzdem war ich in guter Kondition und außerdem fest entschlossen. Er konnte mich nicht loswerden, solange ich es nicht wollte.
„John Rodolfo?“, fragte ich, und da hörte er auf, an mir herumzuzerren.
Auf eine Stelle gleich links neben meinem Gesicht starrend, herrschte er mich an: „Wer zum Teufel will das wissen?“
„Anne Lockheart.“
Er neigte den Kopf zur Seite, und wieder nahm mich seine Attraktivität gefangen. Sogar mit seinen verdeckten Augen, die mich weder ihre Form noch ihre Farbe erkennen ließen, war er unvorstellbar anziehend.
„Kenne ich Sie?“, fragte er.
„Nein.“
Er ließ meinen Arm fallen, trat jedoch nicht zurück. „Lassen Sie uns das hier noch mal versuchen. Was wollen Sie, wenn nicht eine schnelle Nummer auf meinem Schreibtisch?“
„Ich ziehe meine schnellen Nummern immer an eine Wand gelehnt durch, aber nicht heute und vor allem nicht mit Ihnen.“
Seine Lippen zuckten
Weitere Kostenlose Bücher