Wolfspfade 6
Manche behaupten, die Mardi-Gras-Indianer wären entstanden, als Buffalo Bills Wildwestshow in der Stadt gastierte. Andere führen ihren Ursprung darauf zurück, dass viele entflohene Sklaven bei den Indianerstämmen Zuflucht suchten. Die genaue Wahrheit kennt niemand. Jedenfalls sind die Mardi-Gras-Indianer eine große Sache, und der Schlosser wird erst kommen, wenn das Spektakel vorbei ist.“
Ich nickte. Dann würde ich eben auf das Hufeisen vertrauen und als Verstärkung der Sicherheitsmaßen zur Not noch einen Stuhl unter die Türklinke klemmen müssen.
Ich sammelte den ganzen Kram zusammen. „Danke, King.“
Als ich mich umdrehte, hörte ich ihn grummeln: „Diese weißen Spinner mit ihren schwachsinnigen Bräuchen.“
Er sollte sich besser in Acht nehmen, sonst würde ich wirklich noch anfangen, ihn zu mögen.
Mein Bett war leer. Eigentlich hatte ich auch nicht damit gerechnet, dass John da sein würde. Ich sollte froh darüber sein, schließlich nagelte ich das Hufeisen für ihn über die Tür. Oder tat ich es gegen ihn?
Ich zog mir einen Stuhl heran, kletterte darauf und machte mich ans Werk. Da ich gut mit einem Hammer umgehen konnte, war ich in wenigen Minuten fertig.
„Was ist das für ein Radau?“
Ich schrak zusammen; ich hatte niemanden die Treppe hinauf- oder den Flur entlangkommen hören. Durch die abrupte Bewegung begann der Stuhl zu wackeln. Ächzend ließ ich den Hammer fallen und ruderte mit den Armen. Ich würde stürzen und mit dem Kopf auf den Boden knallen, sodass er wie eine Wassermelone aufplatzte.
Dann war John da und fasste mich um die Taille. Seine Rettung war ein wenig ungeschickt – er versetzte mir zuerst einen Magenschwinger –, doch das kümmerte mich nicht. Der Stuhl kippte nach hinten und ich nach vorn, bevor ich an Rodolfos Körper entlang nach unten glitt, bis ich wieder festen Boden unter den Füßen hatte.
Mein Herz drohte, mir den Brustkorb zu sprengen; mir war schwindlig vor Adrenalin. Ich konnte nichts weiter tun, als mich an ihm festzuklammern.
„Alles okay?“, fragte er.
Ich drückte die Wange an seine Schulter. Mehrere Sekunden war ich nicht fähig zu sprechen. Sobald ich meine Sprache, zusammen mit meiner Atmung, wiedergefunden hatte, lehnte ich mich zurück. Mein Blick fixierte das Hufeisen, das hinter Rodolfos Kopf hing. Als er mich um die Taille gepackt hatte, war er in mein Zimmer getreten und dabei direkt unter dem Hufeisen hindurchgegangen.
Ich konnte nicht anders: Ich küsste ihn, und das eine ganze Weile. Als ich aufhörte, waren wir beide außer Atem.
„Wie geht es dir denn?“, erkundigte ich mich.
„Soweit ganz gut. Warum?“
Ich nuschelte irgendetwas vor mich hin und starrte verunsichert ein weiteres Mal zu dem Hufeisen. Ich hatte keinen Schimmer, was eigentlich passieren sollte, sobald ein Werwolf unter dem Eisen durchlief. Bedeutete Johns Fähigkeit, dies zu tun, dass er kein Werwolf war? Oder hieß es nichts weiter, als dass er im Moment keiner war? Verdammt, möglicherweise bewies es nur, dass der Test überhaupt nicht funktionierte.
Unfassbar, dass ich tatsächlich über so etwas nachdachte. Ich hatte John in der Vollmondnacht gesehen; und was das betraf, hatte ich ihn auch in der Halbmondnacht gesehen. Mein Verhalten war schlichtweg idiotisch, wenn nicht gar geisteskrank.
Ich löste mich aus seiner Umarmung und stellte den Stuhl an die Wand, bevor noch einer von uns darüberstolperte.
„Was hast du da eben gemacht?“, wollte er wissen.
„Ein Hufeisen über der Tür aufgehängt.“
Er wölbte die Brauen. „Brauchst du ein bisschen Glück?“
„Könnte nicht schaden. Ich habe meine Schwester noch immer nicht gefunden.“
Seine Belustigung verschwand. „Bitte entschuldige.“
„Wofür solltest du dich entschuldigen müssen?“
Er wandte sich ab. „Ich weiß, dass es dich traurig macht.“
„Hast du selbst auch Geschwister?“
Rodolfo spannte sich an. Ich war zu weit gegangen, zu persönlich geworden, was angesichts der Küsse, die wir ausgetauscht hatten, eigentlich unmöglich schien, aber vermutlich gab es Grenzen zwischen uns, derer ich mir nicht bewusst war.
„Nein“, murmelte er, und das Wort hing wie eine dunkle Wolke zwischen uns in der Luft.
Warum hatte ich das nur vergessen? Seine gesamte Familie war tot. Wie mochte es sich anfühlen, blind und ganz allein auf der Welt zu sein? Ich wollte es nicht wissen.
Als ich die Hände an seinen Rücken legte, spürte ich das schwache Zittern unter seinem
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