Wolfspfade 6
nicht anders.
„Ich musste zu einem Termin“, platzte John heraus. „Und du hast so tief und fest geschlafen, dass ich dich nicht wecken wollte.“
„Ich habe nicht danach gefragt.“
„Nein“, bestätigte er leise. „Das hast du nicht.“
Ich war mir nicht sicher, ob seine Worte als Kompliment oder als Vorwurf gemeint waren. Es gab bei John Rodolfo nur wenig, dessen ich mir sicher war.
Abrupt drehte er sich um, stapfte zur Bühnenecke, nahm sein Saxophon zur Hand und begann zu spielen. Das Stück war quälend langsam und herzzerreißend zärtlich. Ohne ein Wort, allein durch seine Musik, brachte er mich dazu, ihn zu begehren, zu brauchen, zu lieben.
Wahrscheinlich würde ich nie über ihn hinwegkommen.
Der Rest der Nacht verflog wie in einem Nebel. Da der Mardi Gras direkt bevorstand, hatten wir schrecklich viel zu tun. John spielte fast schon fanatisch, als wollte er nicht aufhören, um nicht denken oder irgendwo anders sein zu müssen als bei seiner Musik.
Als er später auf dem Weg zum Büro an mir vorbeikam, war sein Haar schweißnass und sein Gesicht beunruhigend blass.
„Geht es dir gut?“ Ich griff nach seiner Hand und stellte fest, dass er zitterte.
„Ich brauche eine Zigarette“, erklärte er mit vor Erschöpfung heiserer Stimme.
„Du brauchst ein Bett.“
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. „Den Trick kenne ich schon.“
Das letzte Wort klang so genuschelt, dass ich die Stirn runzelte. „Hast du Kopfschmerzen?“
„Nein, chica .“ Er sprach nun sehr klar, aber es wirkte zu bemüht.
„Hast du etwas gegessen?“
„Nein.“ Er lachte, aber der Ton war zu hoch und komplett anders als das tiefe, sexy Grollen, das ich bei einigen, allzu seltenen Gelegenheiten gehört hatte. „Aber das werde ich noch.“
Er entwand sich meinem Griff und verschwand im Büro. Ich konnte mich nicht beherrschen, ihm zu folgen, aber kaum dass ich mich der Tür näherte, vernahm ich das mittlerweile altvertraute Gemurmel seiner Selbstgespräche.
Obwohl es ihm in letzter Zeit besser zu gehen schien, war ich keine Ärztin und auch keine Psychologin. Ich musste mich mit dem Gedanken abfinden, dass es John womöglich nie besser gehen würde, dass er nie normal werden würde – was auch immer das war.
„Ich könnte ein bisschen Hilfe brauchen!“, rief King, und obwohl ich mir nichts sehnlicher wünschte, als in dieses Büro zu gehen und John aufzufordern, mir zu sagen, was ihn zu dem Menschen gemacht hatte, der er war, wusste ich gleichzeitig, dass er es mir nicht verraten würde.
Ich machte mich wieder an die Arbeit. Als sich später die Lage so weit beruhigt hatte, dass ich wieder durchatmen konnte, kehrte ich zum Büro zurück. Aber John war schon weg.
Der Morgen kam und mit ihm eine neue Entschlossenheit. Ich brauchte einen Schutz, der bei Mensch und Tier wirkte. Ich entdeckte ihn in demselben Antiquitätengeschäft, in dem ich das eiserne Hufeisen erstanden hatte.
„Ja, Ma’am, das ist reines Silber.“ Die junge Frau, die heute im Laden bediente, öffnete die Glasvitrine und nahm den aus dem achtzehnten Jahrhundert stammenden Brieföffner heraus. „So etwas wird heutzutage gar nicht mehr hergestellt.“
Ich nahm die Waffe – äh, den Brieföffner – aus ihrer ausgestreckten Hand. Das Ding war messerscharf. Und laut Preisschild am Griff entsetzlich teuer.
Ich zückte meine Kreditkarte. „Schön, ich nehme ihn.“
Auf dem Rückweg zum Rising Moon legte ich einen Stopp im Internetcafé ein, um nachzusehen, ob Maggie auf wundersame Weise wieder aufgetaucht war. Das war sie nicht.
Ich orderte Kaffee und einen Vollkornweizen-Bagel, dann setzte ich mich für ein paar Minuten nach draußen. Jemand hatte ein Exemplar der New Orleans Times-Picayune zurückgelassen. Ich warf einen flüchtigen Blick auf das Titelblatt, bevor ich mir das Ding schnappte und das Foto des Mannes anstarrte, der mit einem Messer in der Brust aus dem Rising Moon geflüchtet war.
Jorge Vanez wurde tot im Honey-Island-Sumpf aufgefunden. Die Polizei hatte im Zusammenhang mit einem gewaltsamen Übergriff in einer Bar auf der Frenchmen Street nach Vanez, der sich dabei eine Stichverletzung zuzog, gefahndet. Allerdings ist seine Leiche so stark verkohlt, dass es sich als unmöglich herausstellen könnte, die genaue Todesursache zu bestimmen.
Meine Hände krampften sich um die Zeitung und erzeugten dabei ein derart lautes Rascheln, dass der Geschäftsmann am Nebentisch stirnrunzelnd in meine Richtung sah.
Es
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