Wolfspfade 6
gehörten. Und ganz bestimmt bekommen sie niemals die Gelegenheit, mit ihnen zu schlafen.
Es sei denn, sie sind blind.
Vielleicht gehörte John aber auch einer seltenen Gattung an – der Gattung von Männern, die sich mehr für den Menschen unter der Oberfläche interessierten. Vielleicht war er schon so gewesen, bevor er sein Augenlicht verloren hatte. Vielleicht.
Er entfernte sich, streckte suchend den Arm aus, fand die Tür und schlug sie zu, wodurch er das Zimmer sehr effektiv des letzten Rests Licht beraubte. Ich konnte nur seine dunkle Kontur ausmachen, als er dann wieder über mir stand und ich nackt vor ihm lag. Worauf wartete er noch?
„John?“
Beim Klang meiner Stimme neigte er den Kopf zur Seite. Er schien mich hinter seiner dunklen Brille anzustarren, dann hob er die Hand und nahm sie ab. Ein leises Klicken zerriss die Stille, als er sie auf den Nachttisch legte.
Ich konnte seine Augen nicht sehen; da war kein Glanz, kein Schimmern – lag es an dem Fehlen von Licht, dem Fehlen von Augen, oder schützte er lediglich die zerstörten Iriden ein weiteres Mal mit seinen Lidern?
Mit einem Seufzer der Kapitulation bedeckte er meinen Körper mit seinem. „Das ist ein großer Fehler.“
„Oh ja.“ Ich wölbte mich ihm entgegen, und er drang in mich ein. „Ein. Riesiger. Fehler.
Er bewegte die Hüften. „Riesig?“
„Mmm. Definitiv.“
Sein Lachen perlte über mich wie warmer Regen. Ein Knoten platzte in meiner Brust, und ich hielt voller Staunen den Atem an. Ich fasste nach oben, berührte sein Gesicht und strich mit den Fingerspitzen durch seinen kurzen, weichen Bart, bis meine Nägel auf seine Haut trafen und er ganz still wurde.
„Nicht, Anne. Mach diese Sache nicht zu etwas Größerem, als sie sein kann.“
Tief in mir bauten sich die ersten orgastischen Zuckungen auf. Seine Arme bebten, während er reglos in mir verharrte.
Entschlossen, das, was wir hatten, sich nicht verflüchtigen zu lassen, begann ich, meinen Körper in langsamem, sicherem Rhythmus unter seinem zu bewegen. Sein Atem ging keuchend und stoßweise, meiner ebenso. Er konnte nicht anders; er verlor die Beherrschung, und wir kamen gemeinsam.
Seine Wange lag an meiner Brust und meine Hand noch immer an seinem Gesicht; ich flüsterte: „Du warst derjenige, der gesagt hat, dass sich jeder wünscht, dass es Liebe ist.“
Er rollte sich von mir herunter, bis er auf der einen Seite der Matratze lag und ich auf der anderen. „In meiner Welt ist das, was wir uns am sehnlichsten wünschen, gleichzeitig das, was wir niemals haben können.“
25
Ich machte Anstalten aufzustehen.
„Geh nicht“, murmelte John. „Bitte.“
Das „Bitte“ gab den Ausschlag, obwohl ich eigentlich nicht bleiben wollte. Wie viele Wege kannte er, um mir zu sagen, dass es zwischen uns nie mehr als Sex geben konnte?
Auch wenn die Erfahrung, wegen meines Körpers begehrt zu werden, anfangs aufregend neu gewesen war, hatte sich dies schnell abgenutzt. Ich wollte um meiner selbst willen geliebt werden. Wer nicht?
Wie er selbst gesagt hatte: Was wir uns am sehnlichsten wünschen, können wir niemals bekommen. Läuft das nicht immer gleich ab?
Im Zimmer war es dunkel und kühl. Ich döste ein, und als ich unbestimmbare Zeit später aus dem Schlaf schreckte, war der Platz neben mir im Bett leer. Ich lauschte angestrengt, um jedes noch so kleine Geräusch aufzufangen.
War John noch in der Wohnung? Hatte mich das Rauschen der Dusche, das Zuschnappen der Tür, das Auftreten eines Fußes aus dem Schlaf gerissen?
Ich hüllte mich in das Bettlaken und wanderte durch die Wohnung. John war nicht da.
Und auch sonst war da kaum etwas. Die minimalistische Einrichtung des Wohnbereichs und der mönchische Zustand des Schlafzimmers waren mir schon zuvor aufgefallen, aber tatsächlich gab es weit und breit keine persönlichen Gegenstände, mit Ausnahme von Kleidungsstücken und Toilettenartikeln. Kein Bild, kein Buch, keinen Brief. Keinen Führerschein, keine Geburtsurkunde, keinen Ausweis.
Fast schien es, als ob John Rodolfo aus dem Nichts nach New Orleans gekommen war.
Vielleicht hatte er noch eine weitere Wohnung in einer anderen Stadt oder einem anderen Bundesstaat. Vielleicht bewahrte er dort alles Relevante auf. Aber wozu? Was hatte er zu verbergen?
Das Nichtvorhandensein persönlicher Dinge, das Nichtvorhandensein einer Vergangenheit in seinem eigenen Zuhause erinnerte mich von Neuem daran, dass ich nicht genug über den Mann wusste, um ihm auch
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