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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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wie sehr Silber einen Körper verwüsten konnte. Der Graf litt große Schmerzen, obwohl er sich Mühe gab, das nicht zu zeigen; seine beiden Gestalten rangen miteinander, und blutige Fellflecken brachen aus der Menschenhaut. Sein Blick war getrübt, sein Antlitz grau wie das eines Menschen, der sich zum Sterben niedergelegt hat und darauf wartet, dass der Regen und der Wind seine Seele ins Land der vielen Tipis bringen würden. Aber er lag nicht auf einem Sterbegestell draußen in der Natur; er war an sein Bett gefesselt, in diesem unnatürlichen Tipi gefangen, wo die Luft abgestanden und muffig war, dessen Wände viel zu hart waren und dessen Holz man so lange poliert und abgeschabt hatte, bis alles Leben daraus entwichen war.
    Trotzdem begannen seine Augen zu leuchten, als Ishnazuyai von dem Jungen sprach, und Ishnazuyai erkannte, wie sehr dieser
Mann sein Kind liebte. Das erschien ihm seltsam, denn er hatte gedacht, dass diese Wesen keinerlei Mitleid kannten.
    Der Graf murmelte etwas, und der Diener übersetzte: »Ihr habt den Jungen … das ist gut.«
    »Ich bringe Tabak und eine Pfeife«, sagte Ishnazuyai. »Es soll Frieden herrschen zwischen uns, bis der Knabe seine Vision hatte.« Er wartete die Übersetzung ab. »Vielleicht wird er uns dann den Weg weisen. Es gibt genug Land für uns alle.«
    Zum Entsetzen des Dieners ließ er sich auf dem Boden nieder. Der Teppich war unangenehm weich, aber er versuchte, sich klaglos in der fremden Umgebung zurechtzufinden. Er entzündete die Pfeife und rauchte, nacheinander allen vier Richtungen des Universums zugewandt. Dann hob er die Pfeife an das Bett und verkündete: »Möge der Rauch, vermischt mit unserem Atem, Wakantanka erreichen, so wie er in alle vier Richtungen der Welt aufsteigt.«
    Er hielt ihm die Pfeife hin und wartete.
    Und der Graf hob seine schwache Hand, um die Pfeife zu nehmen, als erhielte er Trost aus Ishnazuyais Worten.
     
    Sie ertrug es nicht mehr. Sie schleuderte die Decke beiseite und wirbelte zu Hartmut herum. »Wie kannst du ihm nur zuhören?«, kreischte sie. »Er vergiftet unsere Zukunft, die du und Szymanowski für unser Volk vorausgesehen habt … er will unseren Adel mit seinen primitiven Gedanken beflecken!« Der Übersetzer setzte gehorsam an, ihre Worte in die Lakota-Sprache zu übertragen, aber sie brachte ihn mit einer knappen Handbewegung zum Schweigen. »Das geht nur mich und Seine Gnaden etwas an«, fauchte sie.
    »Ruhig, Natalia«, wehrte sich Hartmut schwach. »Was soll er denn von uns halten? Ist das der Adel, von dem du sprichst?«
    »Er benutzt das Kind von dieser Whitechapel-Hure, um dich von deinem Ziel abzubringen! Dies ist unser Land, Hartmut! Der wahnsinnige Welpe ist kein Messias, er ist ein krankes, hilfloses
Kind, mehr nicht, er gehört nicht zu uns und nicht zu ihnen … Und diese Frankoitalienerin, auf die du deine Hoffnungen gesetzt hast … si, la speranza ehe delude sempre! …, sie hat dich betrogen, sie hat ihre eigenen Kinder getötet. Glaube bloß nicht, ich wüsste das nicht!«
    Sie schaute sich um. Ihr Ausbruch hatte den Diener verwirrt, aber Hartmut irrte sich, wenn er glaubte, sie ließe es an Würde mangeln. Ihr Zorn verlieh ihr Größe. Sie warf ihr Haar zurück, zog die Decke über ihren Busen, der ihr halbgelöstes Korsett zu sprengen drohte. Sie war schön. Sie wusste, dass nicht einmal der Pelz auf ihrer Wange ihre Schönheit beeinträchtigte; auch der Indianer konnte sich ihrer Ausstrahlung nicht entziehen - sie roch seine Erregung durch den Angstschweiß des Dieners.
    Aber der Graf lächelte nur - es war der Anflug eines Lächelns -, nahm die Friedenspfeife und zog einmal daran und gab sie dem Alten zurück.
    Und sagte mit ersterbender Stimme: »Es soll Frieden herrschen zwischen uns …«
    Natalia versteifte sich.
    »… solange mein Sohn in Sicherheit ist.«
     
    Als der Indianer gegangen war, tobte sie los: »Nein! Vergiss deinen Sohn! Ich, ich werde dir einen neuen Sohn aus den Lenden pressen … und wenn du dabei sterben wirst!«
    Müde erwiderte der Graf: »Ich bin verwundbar. Er hat, was mir am teuersten ist. Geduld, Natalia! Richtig, es gibt hier Wilde, aber sie leben bereits seit Jahrtausenden hier, wir nicht!«
    »Ist das Hartmut der Eiserne, Hartmut der gnadenlose Jäger, Hartmut der Seelenräuber? Diesen Hartmut liebte ich, liebte ich so sehr, dass ich mein Menschsein hingab. Ich bin eine Wölfin! Und du, Hartmut, der du wölfischer sein solltest als alle anderen Wölfe, du wirst weich

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