Wolfsruf
überhaupt nicht anwesend zu sein schien, und er hob den Kopf des Grafen hoch und stopfte drei Daunenkissen darunter, damit wenigstens ein Anschein von Würde gewahrt blieb.
»Verzeihen Sie, Euer Gnaden«, sagte er. »Ich habe versucht, ihm klarzumachen, dass Sie nicht gestört werden dürfen, aber er hat nicht viel Zeit.«
Natalia Petrowna roch Tabakrauch, der von draußen hereindrang; und hinter diesem Geruch witterte sie einen Wolfsrüden - aber keinen, den sie kannte. Kein Bewohner von Winter Eyes. Vielleicht war es ein lange vermisstes Mitglied des Lykanthropenvereins, das mit einem Schiff aus Europa gekommen war und es bis nach Winter Eyes geschafft hatte. Aber warum dann diese Eile?
Sie zog sich tiefer unter die Decke zurück und wartete darauf, dass sich ihre Vagina entkrampfte. Der Graf hatte noch nicht ejakuliert; sie würde warten müssen, bis der Besucher wieder verschwunden war, und es dann noch einmal probieren.
Da! Jetzt war sie locker genug, damit sie sich lösen konnte! Vorsichtig schob sie sich über den Körper des Grafen, sodass sie unbemerkt unter einer Falte der Decke hervorschauen konnte. Sie wusste, dass der Besucher, der selbst ein Wolf war, ihre Anwesenheit witterte. Aber der Anstand musste unter allen Umständen gewahrt bleiben, vor allem vor den Wesen ihrer Gattung. Sie wusste, dass der Graf einen Verstoß gegen die guten Sitten niemals verzeihen würde.
Der Tabaksgeruch wurde stärker. Dann sah sie, dass er aus
einer Indianerpfeife stieg, einem langen Steinrohr, das mit Federn dekoriert war und auf einem Tablett in den Raum getragen wurde. Der Diener stellte die Pfeife ab. Ein Indianer trat ein.
Der Mann war groß und wahrscheinlich alt, obwohl sein Alter schwer zu schätzen war. Langes weißes Haar hing in Zöpfen unter einer kunstvollen Kriegshaube mit feiner Perlenarbeit heraus. Er trug den feinsten Ornat seines Volkes; seine Hose und sein Wapitilederhemd waren mit Skalps verziert und mit Glasperlen aus Prag, Wien und Dresden bestickt. Der Diener brachte ihm einen Stuhl, und er ließ sich nieder. Natalia fragte sich, ob er sie bereits bemerkt hatte. Aber er sagte nichts.
Und jetzt, als sie ihn anstarrte, als sie versuchte, seinen Körpergeruch aus den Myriaden anderer Düfte herauszuschmecken, erkannte sie ihn plötzlich wieder. Ebenso wie der Graf. Dies war der alte Mann, der während des Überfalls in dem Sioux-Dorf gewesen war - der das Kind des Grafen gestohlen hatte - der die Werwölfe mit seinem bizarren Urinzauber in Schach gehalten hatte. Weswegen war er gekommen? Hier war er unterlegen, und ohne die Kraft des Mondes war er bestimmt schwach und verletzlich.
Sie spürte, dass Hartmut sich aufsetzte. Sie fühlte die unerträgliche Spannung in der Luft. Sie wusste, dass der Alte ihre Anwesenheit ahnte; wie sollte es anders sein? Aber er ignorierte sie immer noch; sie wusste nicht, ob aus Höflichkeit oder Ironie.
Er sprach mittels eines Dolmetschers, einem Diener, der sich die Indianersprache selbst beigebracht hatte und sie in eigenwilliges Deutsch übersetzte: »Sie haben Angst in dieses Land gebracht. Sie haben Blutvergießen gebracht. Wir suchen diese Dinge nicht. Warum haben Sie uns das angetan und unseren Brüdern? Ich bin gekommen, um Sie zu sehen, trotz großer Gefahr für mich, denn die Washichun sind überall. Ich will Frieden schließen. Ich habe Ihr Kind, und ich weiß, dass er ein großer
Seher ist und dass er einen neuen Weg zwischen unseren beiden Völkern schmieden will.«
Dies also war die Höhle des Feindes. Frauengeruch lag in der Luft, obwohl Ishnazuyai keine Wölfin sah. Natürlich, schließlich durfte auch keine anwesend sein, wenn die Friedenspfeife geraucht wurde. Wenigstens besaß der Feind genug Höflichkeit, um die Frau zu verbergen und nicht gegen allen Anstand zu verstoßen.
Er hatte mit einer starken, eindrucksvollen Persönlichkeit gerechnet. Sie waren sich schon einmal begegnet, damals, als die Washichun -Wölfe über das Dorf hergefallen waren. Damals hatte er den Leitwolf nur mit größter Anstrengung in Schach halten können, aber jetzt war er verwundet, litt Schmerzen, starb vielleicht. Das glänzende Metall hatte ihn getroffen, das die Washichun Silber nannten - das Mondmetall. Die Shungmanitu besaßen dieses Metall nicht. Sie hatten gehört, dass die Menschen in den Wüsten des Südens es kannten und dass die Kojotenmenschen dort unten ebenfalls dadurch verwundet werden konnten, aber der weiße Mann hatte keine Ahnung gehabt,
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