Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
Vom Netzwerk:
den Tisch ziehen kann, brauche ich mich wirklich vor niemandem zu verstecken.
    Aber er musste diesen Indianer wiederfinden. Die Spur war kaum zu verfehlen. Dieser Kerl hatte die seltsame Angewohnheit, sich alle fünfzig oder sechzig Schritte zu erleichtern, und er hatte bestimmt die schärfste Pisse in ganz Custer County. Selbst nach zwei Tagen stank sie noch so stark, dass es ihn einoder zweimal würgte.
    Außerdem gab es noch eine andere Spur - der Alte hatte die Angewohnheit, nachts auf einer Flöte zu spielen, deren Klang meilenweit zu hören war: Wenn man sorgfältig genug lauschte, konnte man sie von dem Geschrei der Nachtvögel und dem Sirren der Insekten und dem Fiepen kleiner Säugetiere unterscheiden; sie verschmolz mit diesen Geräuschen, harmonisierte mit dem Murmeln des Nachtwaldes. Es war indianische Liebesmusik, aber der Häuptling war hinter keiner Squaw her. Wahrscheinlich ging er nur süßen Erinnerungen nach, dachte
Claggart und kicherte, während er seinen eigenen Lustschwengel durch die Taschen seiner Levi’s befingerte.
    Immer tiefer in die Hügel folgte er ihm. In unbekanntes Land. Der untergehenden Sonne entgegen. Er machte auf einer Lichtung Rast, um einen frisch geschossenen Hasen zu häuten und am Spieß zu braten und um sein Pferd zu tränken. Bald würde es Nacht werden. Die Luft wurde kühler, unangenehm, als er sich auf der Lichtung in einem Bett aus Zweigen und altem Laub niederließ. Das Pferd war unruhig; vielleicht waren ihm die Satteltaschen mit all den Waffen und Silberketten zu schwer. Claggart gab eigentlich nicht viel auf solche Altweibergeschichten, aber er wollte kein Risiko eingehen. Er hatte auch ein Eisenhutdestillat erworben - von einem Quacksalber, der mindestens ebenso schlimm wie er selbst zu seiner Zeit als Schlangenölhändler war - und Knoblauch und Kreuze und alles, was als Schutz gegen irgendwelche übernatürlichen Wesen dienen konnte, die nachts durch den Wald schlichen. Nur zur Sicherheit, wie er sich selbst immer wieder sagte.
    Falls der Junge tatsächlich das war, was er erhoffte.
    Silberketten, um eine Goldgrube auszubeuten!
    Irgendwo heulte ein Wolf. Erst glaubte er, es sei ein Indianerruf, und griff nach seiner Smith and Wesson.
    Aber er hatte keine Angst. Dies hier war kein Indianerland mehr - es gehörte den Goldsuchern, und außerdem hatte er genug Waffen und Munition in seinen Satteltaschen, um eine ganze Armee verrückter, alter, besoffener Rothäute abzuknallen. Und es gab keine Indianer mehr in den Hügeln, nicht, seit sie ihr heiliges Land aufgegeben hatten und in das eintönige Reservat gezogen waren, wo sie keine anständigen Menschen mehr belästigen konnten.
    Keine Horden von Wilden! Nein, nur ein herumstreunender Indianer mit einem geklauten Kind. Wahrscheinlich sein Lustknabe, dachte Claggart, während er im Feuer stocherte und seinen Hasen grillte.

    Während er an einem Hasenbein knabberte, fragte er sich, warum der Indianer wohl zum Einzelgänger geworden war. Es gab eine Reihe möglicher Gründe dafür. Vielleicht hatte er seinen Stamm durch seine Feigheit entehrt oder die Häuptlingstochter geschwängert oder das falsche Pferd mitgenommen - die Indianer regten sich über die lächerlichsten Dinge auf. Und was hatte ihn dazu getrieben, den kleinen weißen Jungen zu entführen?
    Claggart lauschte. Hörte einen Moment lang auf zu kauen.
    Verdammt, das war doch wieder diese Flöte, und viel näher, fast am Rand der Lichtung.
    Er blickte auf und sah den Alten dort stehen. Natürlich - der Hase - er wollte was von dem Hasen abhaben, indianische Gastfreundschaft genießen!
    »Hau«, begrüßte ihn der Alte. Seine Miene war keineswegs feindselig. Aber seine Augen glühten komisch gelb, und Claggart traute niemandem, der so freundlich tat. Ein reicher Indianer, dachte Claggart, als er die Perlenstickerei auf dem Hemd sah; muss wohl früher mal ein wichtiger Häuptling gewesen sein. Aber jetzt ist er bloß noch ein lästiger Saufbold, der mich um mein Abendessen anbetteln will.
    Ich hätte ihm nicht heimlich folgen sollen, dachte Claggart. Er hat ja gar keine Ahnung, was ich will. Er hält mich bloß für einen einsamen Trapper.
    Im Licht und durch den Rauchschleier glänzten seine Augen.
    »Komm schon«, sagte Claggart und streckte ihm ein Stück Fleisch entgegen, »komm her, komm, … iss.« Indianer sind wie Hunde, überlegte er und warf ihm den Knochen hin, erwartete halb, dass sich der alte Mann wie ein Tier darauf stürzte.
    Eine Rauchwolke

Weitere Kostenlose Bücher