Wolfsruf
Springs
Morgen in Bitter Creek
CLAGGARTS WUNDERBARER
ZIRKUS DER WANDLUNGEN!
Für nur zehn Cents (!)
SEHEN SIE
Eine Zigeunerin, die in die Zukunft sehen kann.
Eine rechnende Jackalope.
einen Magier, der eine Kugel aus einer Schuss-
wunde herauszaubern kann, die vom schnells-
ten Schützen im Wilden Westen abgefeuert
wurde, und:
(NUR BEI VOLLMOND)
einen Jungen, der sich in einen
WOLF VERWANDELTE.
Darunter hatte jemand gekritzelt: und einen Chinesen, der zum Christen wird!
Der Wind war so laut, dass kaum zu hören war, was sich sonst noch an jenem Tag in Rock Springs abspielte. Aber als Victor Castellanos sein Pferd vor dem General Store festband und seine beiden Begleiter - Schwarze, die als Kinder noch Sklaven gewesen waren - zum Saloon davonstapfen sah, roch er Blut. Die Stadt stank nach Tod. So kurz vor Vollmond konnte es Victor Castellanos fast schmecken. Obwohl er seit beinahe zwei Jahren, seit dem Tod des alten Grafen, nicht mehr mit dem Rudel in Winter Eyes zusammen war, identifizierte er den Duft sofort. Panik. Schrecken. Und Blut. Er fragte sich, ob die Leute aus Winter Eyes auf ihren Streifzügen so weit nach Westen vorgedrungen waren.
Und da war noch ein anderer Geruch. Irgendwo in der Nähe war ein junger Wolf. Die Pfosten des Gehsteigs waren markiert. Wer immer das getan hatte, verstand zu pissen, selbst im stärksten Wind.
Das Tosen des Windes stieg noch an. Und dann, als Victor sich umdrehte, begriff er, dass es nicht nur der Wind war. Eine aufgebrachte Gruppe von Leuten kam um die Ecke gebogen und eilte auf den General Store zu. Sie schleiften einen Chinesen an seinem Zopf mit. Ein zweiter, den man wie ein Spanferkel
zusammengeschnürt hatte, wurde mit Gewehrkolben vorwärtsgestoßen. Die Menge jubelte. Castallanos verstand nicht, was sie sagten. Es war ein widerwärtiger Anblick.
Er entschied, dass es vielleicht am besten war, sich in den Saloon zu verkrümeln. Er überquerte die Straße. Er drückte die Tür zum Saloon auf. Drinnen spielten ein Klavier und eine Geige. Er trat ein. Die beiden Neger saßen ganz hinten vor ihren Gläsern; der Barkeeper blickte auf und nickte neugierig; ein toter Chinese schwang wie ein Pendel vom Dachsparren. Sie hatten ihn an seinem eigenen Zopf aufgeknüpft. Die Zunge hing ihm aus dem Mund, seine Augen quollen aus den Höhlen, und auf Victors Schuhe tropfte Blut.
»Bleiben Sie lieber nicht da stehen«, sagte der Barkeeper. »Das Chinesenblut bringt Ihre Sporen zum Rosten, ehe Sie es sich versehen.«
Victor Castellanos war schockiert. Nicht einmal unter den Comancheros wurde der Tod so beiläufig abgetan. Nicht einmal die Werwölfe schmückten ihre Häuser mit frisch erlegter Beute -
»Was ist denn los?«, fragte er.
»Endlich wird die Stadt von dem Ungeziefer befreit«, erklärte ihm der Barkeeper. »In dieser Stadt leben anständige Menschen, weiße Menschen.«
Die Schwarzen schienen sich äußerst unwohl zu fühlen.
»Ich bin kein Weißer«, erklärte Castellanos und stellte sich an die Bar.
»Wenigstens sind Sie kein Heide. Scheiße, nicht mal die Nigger sind Heiden!«
»Bei Gott, das sind wir nicht«, bekräftigte der größere der beiden Schwarzen, Ned Johnson, ganz entschieden ein »anständiger Mensch«, dachte Victor, und ein exzellenter Cowboy dazu, der mit dem Lasso umzugehen verstand. Sein Freund Samson war nicht ganz so ehrbar, er würde klauen, wenn er keinen Job hätte.
Außer den drei Ortsfremden und dem Barkeeper sowie den zwei Frauen in scharlachroten Kleidern an den Instrumenten war der Saloon leer. Der Lärm draußen schwoll an.
»He«, erklärte der Barkeeper schließlich, »ich will auch zuschauen. Stört es Sie, wenn ich so lange zumache?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ er die Bar und verschwand nach draußen. Die Geigerin brach mitten im Stück ab, stemmte die Hände in die Hüften und marschierte zur Theke. »Männer!«, stöhnte sie. »Sie wollen immer nur töten. Noch eine Runde?« Sie öffnete eine Flasche Hausgebrannten und füllte die Gläser neu, ohne dass einer etwas gesagt hätte. »Ach, keine Angst wegen der fünfzig Cents, das werden sie gar nicht merken bei dem Rummel da draußen.«
Die Klavierspielerin stimmte einen sentimentalen Walzer an, den sie mit weitausholenden Armbewegungen und regem Mienenspiel vortrug.
»Und was ist das für ein Rummel da draußen?«, fragte Victor. Er hatte den Wolfsgeruch hinter dem Schrecken und dem Blutvergießen nicht vergessen. Trotzdem war er überzeugt, dass die
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