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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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Rätsel, das zu lösen blieb. Vielleicht wog die Tatsache, dass er Weißer und ein Werwolf war, so schwer - vielleicht musste auch Natalia aus irgendeinem Grund ihr Volk von ihrem Coup ablenken.
    Es gibt kein Grab für von Bächl-Wölfling, und die Statue, die Speranza Martinique, die Madonna der Wölfe, darstellen soll, habe ich ebenfalls noch nicht entdeckt.
    Preston kehrte nicht zusammen mit mir zurück. Er ist immer noch da draußen, lebt in der Wildnis; ich vermute, er will sich noch mehr auf das Tier einstimmen. Vielleicht will er die Zivilisation nicht sehen, bevor sich seine Vision erfüllt hat.
    Ich schlafe allein. Die Albträume lassen mich nicht los.
     
    Am Morgen traf ich Sterling La Loge zum Frühstück vor dem für diesen Tag vorgesehenen Interview mit J. K. Ich hatte bereits zwei Zigaretten geraucht, als er auftauchte. Er lächelte bloß und sagte: »Sie bringen sich noch um, Carrie.«
    Ich aß.
    »Ich klinge ungern wie der klassische Freudianer, der ich nun einmal bin, aber diese neue Sucht deutet auf einen tiefen Wunsch hin, zum oralen Entwicklungsstadium zurückzukehren. Eine Art Regression, um genau zu sein. Sehnen Sie sich nach dem Mutterleib, meine Liebe?«
    Ich lachte, aber als ich die Augen schloss, dachte ich an -
    Drinnen. Auf die Jäger warten.
    »Wirklich nicht, Dr. La Loge.«

    »Das ist gut.« Er schenkte mir noch eine Tasse Kaffee ein. Ich trank hastig - ich hörte ihn geradezu denken: »Wie oral, wie oral«, aber das war mir gleichgültig. »Wir sind an einem Scheideweg angelangt … ich hoffe, Sie sind sich im Klaren darüber, Carrie, dass wir ohne Sie nicht so weit gekommen wären … aber der schwierigste Teil steht uns noch bevor.«
    Ich wusste, was er meinte. Ich hatte gelernt, dass sich eine multiple Persönlichkeit normalerweise nach einem traumatischen Erlebnis in der Kindheit entwickelt - meist handelt es sich dabei um eine Art sadomasochistischen Inzest. Das Erlebnis ist so unerträglich, dass das Opfer seine Existenz verleugnet; es streitet ab, dass ihm so etwas jemals widerfahren ist … und schafft eine neue Persönlichkeit, die diese entsetzlichen Ereignisse auf sich nimmt. Das Absplittern der ersten Persönlichkeit löst eine Kettenreaktion aus, und bald entstehen ein Dutzend oder mehr Charaktere, jeder mit eigenem Akzent, eigenem Alter, eigener Stimme, eigenem Namen, eigenen Gehirnströmen. Trotzdem ist das keine Psychose - nur eine »Persönlichkeitsstörung«.
    Wir mussten uns noch dem Ursprungstrauma stellen.
    Ich hatte von grässlichen Erfahrungen in J. K.s Leben gehört, die für mehrere Traumata ausgereicht hätten. Aber keine davon war die ursprüngliche Erfahrung - das dunkle Herz - J. K. hatte sich ihm nie gestellt, obwohl er während der Traumwanderung des Indianers dicht davorstand.
    La Loge sagte: »Ich muss Sie um noch mehr Kooperation als bisher bitten. Ich weiß, dass es schwer für Sie ist; aber J. K. glaubt, dass Speranza anwesend sein muss, wenn er die letzte Barriere durchbricht. Wäre es zu viel verlangt, wenn ich Sie darum bitte, Speranza … zu personifizieren? Stellen Sie sich vor, Sie würden in J. K.s Fantasieleben eintauchen, oder was immer Ihnen gefällt, aber …«
    Personifizieren?
    La Loge hatte keine Ahnung, wie ich mich fühlte. Speranza
Martinique hatte mein Leben bereits so weit erobert, dass ich ihre Träume träumte, ihre Gedanken dachte. Ich war hervorragend geeignet, seine therapeutischen Fantasiespiele mitzuspielen, denn ich war kurz davor, vollkommen von Speranza aufgesogen zu werden und Carrie ganz zu verlieren.
    Ich schaute an Dr. La Loge vorbei und aus dem Panoramafenster auf Weeping Wolf Rock, der jetzt nicht mehr aus Schnee aufragte wie an jenem Tag, als ich hier angekommen war, sondern über einer leuchtend grünen Pflanzendecke thronte. »Ich werde tun, was ich kann. Natürlich.« Ich zündete mir meine dritte Zigarette an. Lieber Nikotin, dachte ich, als Kokain wie Speranza.

2
    1885: Rock Springs, Wyoming-Territorium
    Am Tag vor Vollmond
     
    Der Herbstwind fegte durch Rock Springs, als die Cowboys die Stadt stürmten, von wo aus der Goodnight-Loving-Trail nach Süden begann. Der Wind rüttelte an den Verschlägen, schüttete Berge toten Laubes auf die matschigen Straßen, klatschte Schlammbatzen gegen die Türen, schlug Schilder gegen die Wände. Vor Webb’s General Store verkündete ein flatterndes Plakat an einem Verandapfosten von den Wundern, die am nächsten Tag zu erwarten waren:
    Nur einen Tag in Rock

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