Wolfsruf
nicht gut gemeint, jetzt keuchte und spuckte er und brauchte viel freundliches Zureden, bis ich mitsamt meinem Notizbuch und allem Drum und Dran zum Sonnentanzplatz fahren konnte.
Natürlich wusste ich in groben Zügen aus Dr. Murphys Unterricht über Indianer, was dort geschehen würde. Aber ich stellte mir das Ereignis in etwa wie einen Bericht im National Geographic vor, und damit hatte es nicht das Geringste zu tun.
Es gab den Kreis von Frauen, die sich wie in Zeitlupe zu dem hypnotischen Trommeln vor und zurück bewegten. Es gab auch den heiligen Baum, die Männer in ihren knielangen Schürzen mit Salbei in der Hand, Pfeifen im Mund und Nadeln in ihren Brüsten, die zu der ernsten Musik tanzten. Ich hatte allerdings nicht mit der Hitze gerechnet, mit der Gleichgültigkeit, die mir entgegenschlug, und vor allem nicht mit der - wie soll ich es ausdrücken - Korpulenz der Akteure.
In meiner Vorstellung hatten drahtige, schwitzende junge Männer einen wilden, leidenschaftlichen Tanz aufgeführt - in der Schule hatte ich sogar geheime masochistische Träume mit diesem Ritual verbunden. Die Realität war ziemlich ernüchternd. Ich sah, wie versunken die Tänzer waren; ihre Schmerzen mussten echt sein. Aber ich litt unter dem gleißenden Sonnenlicht. Und Preston war nicht da.
Schließlich musste ich zugeben, dass vor allem Prestons Abwesenheit mir das Spektakel vermieste. Ich wollte ihn leiden sehen. Nicht um seines Volkes willen, sondern wegen mir. Es war schwer, mir das einzugestehen, aber so war es. Unter dem Auge des Großen Geheimnisses gab es keine Lügen, nicht einmal vor mir selbst.
Und das fand ich am unerträglichsten an diesem Tanz. Die Wahrheit, die daraus sprach. Es gibt keinen Helden, der sich kreuzigen lässt, um der Welt die Sünden zu nehmen. Es gibt nur den Menschen, hier und jetzt, der sich selbst kreuzigt, leidet und Leben schenkt. Und kein muskelbepacktes Conan-Abziehbild. Die Wahrheit hat einen dicken Bauch, ist manchmal arbeitslos, vielleicht Alkoholiker, schlägt vielleicht seine Kinder. Ein gewöhnlicher Mensch mit gewöhnlichen Fehlern.
»Schmerzliche Wahrheit« ist für die Lakota keine Metapher.
Ich fürchtete mich vor der Wahrheit.
Deshalb floh ich vom Schauplatz des Geschehens, noch bevor ein Tänzer sich vom heiligen Baum losgerissen hatte, deshalb rannte ich den ganzen Weg zurück zum Auto, das Trommeln und die Falsettstimmen immer noch im Ohr, deshalb drehte ich das Radio auf und schoss zur altbekannten Musik der Drifters die Straße hinunter.
Ich beschloss, nach Wall zu fahren, einer merkwürdigen Stadt mit einem Drugstore so groß wie ein ganzes County, in dem es immer von Touristen wimmelte. Die Straße wand sich durchs Hinterland; ich dachte - mit dem romantischen Größenwahn der Jugend -, dass ich mit diesen verkrümmten Felsen, diesen grellen Farben, dieser einzigartigen Ödnis kommunizieren könnte und dass es mir diese Kommunikation ermöglichen würde, das einzuordnen, was ich eben gesehen hatte.
Stattdessen starb mir das Auto ab, und so stand ich in der brütenden Hitze, wischte mir die Stirn mit meinem Sommerkleid und sah mit meinen hochtoupierten Haaren wie ein erschrecktes
Stachelschwein aus. Qualm stieg unter der Motorhaube empor, und ich war so durstig, dass ich fürchtete, meine Kehle könnte verdampfen. Ich fluchte auf mich selbst. Ich hatte tatsächlich damit gerechnet, dass es bei dem Sonnentanz einen Cola-Automaten geben würde - bei einer religiösen Zeremonie! Ich war so blöd und so verdammt - so verdammt - spießig und so typisch weiß! Und in diesem Augenblick, mitten im Nichts, verlor ich die Fassung. Ich sprang aus dem Wagen und trommelte mit meinen Fäusten auf die Motorhaube und schrie den Impala an, er solle sich seinen Motor in den Arsch schieben.
»Du hättest das Wasser nachsehen sollen, bevor du das Irrenhaus verlassen hast, Schwester.«
Ich wirbelte herum. Er stand vor mir.
Drahtig und muskulös und kein bisschen fett. »Du warst nicht da!«, schrie ich ihn an. »Du hast dich nicht einmal getraut, du Angeber … du kannst nur Eindruck schinden …«
Er stand ruhig und lächelnd vor mir in zerrissenen Jeans und einem fadenscheinigen T-Shirt. Sein Haar war gewachsen; in der windstillen Hitze klebte es an seinen Wangen und an seinem Hals. Er war dünn; er roch süßlich-krank wie jemand, der an Unterernährung leidet. Er ließ sich ein paar Minuten lang von mir anbrüllen. Dann packte er mich an den Handgelenken, mit einer Ruhe, die er
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