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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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nicht besaß, davon war ich überzeugt. Irgendwie war er anders.
    »Ich habe mich nicht getraut, Carrie«, sagte er. »Ich hab … was anderes entdeckt. Eine Traumwanderung ist ziemlich komisch. Du gehst los und erwartest weiß Gott was … Schmerzen natürlich, aber danach wirst du was sehen, denkst du. Vielleicht einen riesigen Totem-Bären, der dir Pfeil und Bogen reicht und sagt: ›Du bist ein Krieger.‹ Oder: ›Du bist ein Medizinmann.‹ Oder vielleicht auch: ›Du bist eine Schwuchtel.‹ Und dann führt er dich zur Schwitzhütte und zum heiligen Kreis … und zum Sonnentanz und allem. Aber manchmal siehst du in der Vision
auch Dinge, die du nicht wissen möchtest.« Seine Augen waren in schrecklich weite Ferne gerichtet.
    »Wie hast du mich gefunden, Preston?«
    »Ich hab dich gewittert. Die Luft ist ruhig und feucht, da bleibt ein Geruch stundenlang, tagelang haften. Und ich habe keine Angst davor, dich wittern zu können. Du weißt es jetzt, nicht wahr?«
    »Was denn?«
    »Baby, du hast Wolfsblut in dir. Vielleicht bist du kein hundertprozentiger, erstklassiger Werwolf, aber es steckt dir in den Knochen, du kannst es fühlen. Ich weiß es.«
    Ich stand vor ihm, wie vom Donner gerührt. Der Albtraum kam wieder. Speranzas Albtraum. Überschwemmte mich. Hier, bei hellem Tageslicht, in der Sonne. Mir fiel wieder ein -
    Ich war sehr klein und kuschelte mich in meinem Bett unter die Decke mit den großen roten Rosen, meine Mama las mir Rotkäppchen vor. Und als das Licht gelöscht wurde, wickelte ich mich in die Decke wie in einen Kokon und sah -
    Dunkelheit. Feuchte Wände. Im Wolfsbauch. Ich wartete auf die Jäger. Wartete auf die Geburt. Ich, missgebildet, verkrümmt, Halb-Frau.
    »Schätze, ich repariere deine alte Schrottmühle, bevor sie hochgeht«, sagte Preston und hob die Motorhaube an. »Ah … kein Kühlerwasser … dumme Ziege.« Aber er sagte es ohne Bitterkeit. Er begann in den Innereien meines Wagens herumzufuhrwerken - ich fühlte mich, als wären es meine Innereien.
    William Dupré war nicht mein Urgroßvater.
    Nicht der Mann auf der verblichenen Fotografie im Wohnzimmer neben der Verandatür …
    Mein Urgroßvater hieß Scott Harper und kam aus Missouri, war ein Kavallerie-Offizier, Held der Indianerkriege, Renegat, Deserteur - Werwolf.
    Deshalb verstand ich die Albträume - und deshalb erschien mir Johnny Kindreds Vorhaben so real. Ich hatte nie an die
Macht des Schicksals geglaubt, aber jetzt wurde mir klar, dass wie bei einem Schachspiel alle meine Züge für mich geplant worden waren. Ich hatte Angst. Ich ließ zu, dass Preston mich in seine Arme zog. Ich spürte seine Lippen, seine Zunge auf meiner - brennend, trocken. Und immer dieser Geruch nach überreifen Orangen, die in einem vergessenen Garten verfaulen.
    »Jesus, wir sind vielleicht ein Trio«, sagte er heiser. »Du und ich und der Killer von Laramie.«
    Ich entwand mich ihm. »Was hast du in deiner Vision gesehen?«, fragte ich ihn. Ich zündete mir eine Zigarette an.
    »Musst du mit deinem Dreck den heiligen …«, setzte er an, so ruppig wie einst. Dann: »Tut mir leid.«
    »Es tut mir auch leid.« Ich drückte sie aus und warf sie in den Aschenbecher des Impala. Die Berge machten sich über mich lustig. Sie griffen nach den Sternen, gelbe Berge, rosa Berge, ab und zu Grasflecken auf dem blanken Fels, mit lila Wildblumen getupft.
    »Meine Vision …«
    Seine Augen: Das Braun war gelb gesprenkelt. Selbst im hellen Tageslicht hatte er etwas von einem Wolf an sich.
    Ich wartete.
    »November. Vollmond. Der Große Kreis schließt sich wieder. Es wird einen Mondtanz geben.«
    »Einen Mondtanz?«
    »Ja. Der Wolfsjunge wird uns führen. Türen werden geöffnet. Die Welt kann erlöst werden. Wir können mit dem Tier in uns leben. Ja.« Seine Augen glänzten. »Sonst gibt es Krieg, Zerstörung, Tod, Apokalypse. Es liegt an uns.«
    »Ist das nicht ein bisschen übertrieben metaphysisch?«, fragte ich. Ich wollte lachen, doch dann merkte ich, dass es ihm todernst war. Also zupfte ich betreten an meinem Sommerkleid herum - nachdem ich keine Zigarette mehr hatte, und wartete ab.

    »Du warst auch in der Vision, Carrie.«
    »Wie meinst du das?«
    »Du, ich und der Killer von Laramie.«
     
    Ich kehrte am Abend ins Szymanowski-Institut zurück, besuchte den Friedhof: Diesmal waren die Grabsteine jene von alten Freunden. Scott Harper. Hatten sie seine Leiche nach Winter Eyes zurückgebracht, obwohl er ihr eingeschworener Feind war? Noch ein

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