Wolfsruf
besten erschossen werden.«
Der alte Mann stand an der Tür. »Sir«, sagte er ruhig, »Jonas Kay wurde erschossen. Er ist tot. Wir töteten ihn, Johnny und James und Jeffrey und Jonathan … und Dr. La Loge. Warum sagen Sie so schreckliche Dinge?« Und der kleine Junge in ihm sagte: »Speranza«, und verschwand wieder.
Ich war mit Preston allein.
Ich sah ihn nicht an. Ich ging zum Fenster und schaute hinaus auf den Schnee, hoffte, dass er gehen würde.
»Du kannst nicht ewig in den Schnee glotzen«, sagte er leise. Er kam zu mir. Stand hinter mir. Ich konnte seinen Atem spüren und ihn riechen, Achselgeruch und Schweiß und Schlamm und Moschus und Leder. »Berühre mich nicht«, bat ich, »nicht, nicht … noch nicht.« Ich wusste, dass es irgendwann geschehen würde, wusste, dass ich ihm nicht entkommen konnte. Ich erinnerte mich immer genauer an jene Nacht. Sie bedeutete mir immer mehr. »Ich habe Angst.«
»Hündin«, sagte er. Aber nicht wütend.
Ich ließ zu, dass er mich berührte. Ganz sanft. Seine Lippen strichen über meinen Nacken. Seine Lippen waren kühl. Ein Schauer überlief mich. Er hielt mich fester, während ich auf die mondbeschienene Schneelandschaft schaute. Er presste mich an sich, seine Bartstoppeln kratzten über meine Wangen. Wie versteinert starrte ich auf den Schnee.
Plötzlich sah ich -
Augen. Rote Augen, flammend vor dem Weiß des Schnees.
Ich schrie. Wand mich aus seinem Griff. Er fauchte mich an: »Was ist los? Bin ich dir nicht mehr gut genug?«, und ich deutete wie betäubt aus dem Fenster.
»Verdammter Psychopath«, fluchte er. Er drehte sich zur Tür um. Die Tür wurde im gleichen Moment zugeschlagen. Ich hörte Schritte. »Ich sollte ihn heute Nacht anketten, er ist zu unruhig. Anketten und mit Thorazin vollpumpen.«
»War er das?«, fragte ich. Er versuchte, mich wieder zu berühren, aber das Verlangen, das ich gespürt hatte, hatte sich in Nichts aufgelöst. »Ich sage nicht Nein«, wehrte ich ihn ab, »aber …«
»Du sagst Nein.«
»Wenigstens jetzt …« Er hatte etwas Entwaffnendes an sich. »Aber ich möchte wissen, ob er es war. Ich meine …«
»Der Killer von Laramie?« Preston lachte. Es war ein trockenes, trostloses Lachen. »Dr. La Loge hat recht … Er ist wirklich harmlos. Aber wenn du es möchtest, lasse ich ihn heute Nacht einsperren. Falls er auf den Gedanken kommt, dich unter der Dusche abzustechen.«
»Das ist nicht komisch. Diese Augen … sie waren knallrot! Sie schienen zu brennen! Sie waren … sie waren nicht menschlich! Herrgott, ich war so lange unterwegs, ich bin müde … du und der Doktor habt den ganzen Abend mit mir gespielt.«
»Carrie, das Buch, das du schreiben möchtest, wird dir Albträume bescheren.«
»Ich bin stark genug, mich ihnen zu stellen«, sagte ich. Damals war ich jung.
Endlich ließ er mich allein.
Ich rannte zur Tür und verriegelte sie. Ich ließ das Licht brennen. Ich zog mich nicht aus. Ich legte mich aufs Bett und fürchtete mich davor, die Augen zu schließen. Aber schließlich tat ich es doch. Und ich träumte nicht von wahnsinnigen Massenmördern. Ich träumte vom Surfen.
Surfen -
Rote Augen tauchten auf, glühten wie Edelsteine im Wasser.
Und einmal durchdrang hinter der Brandung ein Kinderschrei meinen Traum. Eine klagende, verzweifelte Stimme - die
Stimme eines Kindes, das etwas Entsetzliches miterlebt hatte, etwas, das zu brutal war, um noch begreiflich zu sein - eine Stimme, die immer und immer wieder flüsterte: »Speranza.«
In meinen Träumen wurde der Ozean zu Eis und mein Surfbrett zu einem alten Impala, der durch eine endlose Schneewüste glitt.
2
Ein Tag vor Vollmond
Am Morgen klopfte ein Angestellter, den ich bis dahin noch nicht gesehen hatte, an meine Tür. Ich packte mein tragbares Tonbandgerät aus, legte eine Spule ein (die größte, die in das Gerät passte) und folgte ihm. Ich erkannte keinen der Gänge wieder, die wir durchquerten. Ich hatte das irrationale Gefühl, dass mein Zimmer in einen anderen Teil des Gebäudes gewandert, dass nichts im Szymanowski-Institut an einen festen Ort gebunden war.
Dr. La Loge wartete bereits auf mich. Wir frühstückten eilig, tauschten nur ein paar Höflichkeiten aus. Es schneite immer noch.
Schließlich sagte er: »Ich wollte, dass Sie unseren Freund auf diese unorthodoxe Weise kennenlernen, weil ich sichergehen wollte, dass Sie keine Vorurteile gegenüber einem wahnsinnigen Menschenschlächter haben.«
»Unorthodox?«, wiederholte ich.
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