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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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»Das war es ganz bestimmt.«
    »Jetzt werden Sie ihm in einer ganz anderen Situation begegnen. Alles wird unter Kontrolle sein. Sie brauchen keine Angst zu haben, dass Jonas Kay plötzlich auftaucht und Ihnen an die Gurgel will.«
    »Sie brauchen sich um mich keine Sorgen zu machen«, antwortete
ich und sah hinaus in das formlose Weiß und Grau. Ich war fest entschlossen, mich nicht einschüchtern zu lassen. Schließlich war ich auch gestern Abend nicht hysterisch geworden, oder? Trotz des Irren neben mir, der mich mit blutunterlaufenen Augen angestarrt hatte.
    Blutunterlaufen. Genau das war es gewesen. Nichts Übernatürliches. Dr. La Loge ist kein Medium, er ist Psychologe! Und wir gehen schließlich nicht zu einer Séance. Ich war nervös, aber ich trank zwei Tassen Kaffee. Gott sei Dank, dachte ich, haben sie nicht noch so eine James-der-Butler-Nummer abgezogen.
    »Wird Preston dabei sein?«, fragte ich. Ich wusste nicht, ob ich das wollte oder nicht.
    »Er wird später zu uns stoßen«, antwortete Dr. La Loge. »Er ist im Reservat.« Er schien darauf zu warten, dass ich etwas sagte. »Möchten Sie mich vielleicht etwas fragen? Vielleicht hätten Sie gerne eine Kurzvorlesung über die multiple Persönlichkeit?« Offensichtlich hielt er mich für ziemlich beschränkt.
    Ich wollte erst gar keine Missverständnisse aufkommen lassen. Deshalb sagte ich: »Sterling, ich weiß nicht, warum Sie mich kommen ließen und den Recherchen zu meinem Projekt zustimmten. Offenbar halten sie mich für ein kleines Kind und glauben, dass ich bloß Ihre ›Kurzvorlesungen‹ aufzeichne, um sie dann wiederzukäuen. Vielleicht weiß ich tatsächlich noch nicht sehr viel, aber …« Ich begann zu improvisieren, denn ich hatte tatsächlich nur eine sehr vage Vorstellung, wie mein Buch eigentlich aussehen sollte. »Ich möchte keinen blutrünstigen Reißer schreiben. Gut, man wird das Buch so verkaufen, aber …«
    »Wie rührend. Ein einfühlsames, liebevolles Porträt des Mannes, der Inge Holst mit bloßen Zähnen zerriss, der die Leber von Natalia Denisovitch aß … Ich freue mich schon auf die Lektüre.«

    »Es muss doch einen Grund geben, warum Sie mich kommen ließen, Sterling«, wiederholte ich. »Seit Jahrzehnten lebt der Mann hier vollkommen isoliert. Und ausgerechnet ich darf ihn sehen, obwohl Sie mich für eine Idiotin halten. Das verstehe ich nicht.«
    »Ich auch nicht. Aber lassen Sie mich eines klarstellen. Bevor Sie zu ihm gehen. Ich habe Sie nicht aus den Dutzenden von Namen und Projekten ausgewählt, die im Laufe der letzten dreißig Jahre bei uns eingereicht wurden. Wir wurden nicht gerade mit Briefen überschwemmt, wenigstens nicht in den letzten zehn, fünfzehn Jahren. Aber wir bekamen durchaus mehrere. Manche waren Drohbriefe. Sie wissen schon, warum knallen Sie ihn nicht einfach ab, hängen ihn, kastrieren ihn und so weiter. Manche trieften vor Mitleid. Viele stammen von Menschen, die behaupten, mit ihm oder einem seiner Opfer verwandt zu sein. So viel nur zu Ihrer Behauptung, Sie seien die Urenkelin von Hope Martin. Mir wäre es am liebsten, wenn überhaupt niemand käme. Obwohl ich davon überzeugt bin, dass wir alle gut mit Ihnen auskommen werden, werden Sie eine Belastung für uns darstellen. Menschen wie Sie sind das immer. Und was dann?«
    »Wer hat mich denn ausgewählt?«
    »Er«, antwortete Dr. La Loge. »Er hat Ihr Bild in Ihrem Exposé gesehen. Sie haben ihm gefallen.«
    Dann nahm er mich mit zu ihm.
    Der Killer von Laramie lebte in einem kleinen, unaufgeräumten Raum mit ein paar Stühlen und einem Krankenbett. Das Fenster war vergittert. Schnee lag auf dem Fensterbrett, das Glas war vereist, man konnte kaum erkennen, dass es Tag war.
    Über dem Kopfende des Bettes klebten vier vergilbte Fotografien an der Wand. Ich konnte sie nicht besonders gut sehen, weil er vor ihnen auf dem Bett saß. Er hatte mich noch nicht bemerkt. Auffällig waren außerdem eine verstaubte Victrola und
ein Stapel alter Schellackplatten auf einem Tisch neben dem Fenster. Aus dem Dunkel des Ganges beobachtete ich ihn. Er saß gebeugt, in sich zusammengesunken, und wirkte viel älter als letzte Nacht in seiner Rolle als Butler. Er beschäftigte sich mit einem Blatt Papier, das er abwechselnd zusammenknüllte und wieder glättete.
    »Ah, Jonathan«, sagte Dr. La Loge leise. »Jonathan Kippax.« Damit wollte er mir offenbar zu verstehen geben, dass wir es heute Morgen mit einem anderen J. K. zu tun hatten. »Jonathan ist ein recht

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