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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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charmant.
    »Carrie möchte ein Buch über dich schreiben«, erklärte ihm La Loge. »Sie möchte dich berühmt machen.«
    »Nein! Speranza soll ein Buch über mich schreiben.« Johnny Kindred zog eine Schnute und schaute aus dem Fenster.
    Als er den Kopf drehte, konnte ich einen kurzen Blick auf die Fotografien werfen. Alle vier waren Gruppenfotos. Die Gruppe
schien auf allen die gleiche zu sein. Auf dem ersten Bild trugen die Personen viktorianische Kleidung. Ein großgewachsener Mann mit buschigen Augenbrauen und einem Abendanzug stand im Mittelpunkt; er hatte einen Mantel an. Ihn flankierten mehrere Leute, offenbar Bedienstete. Ganz vorn war ein kleiner Junge mit einem Rüschenhemd zu sehen. Er schien zu weinen. Hinter dem Jungen stand eine Frau. Ernst, mit einem steifen, hohen Kragen und einem Buch in der Hand. Die Gruppe befand sich auf einer Pflasterstraße, vor der Fassade eines Stadthauses, das von mehreren verwitterten Wasserspeiern bewacht wurde. Ein Schild ragte ins Bild; es war in altdeutscher Schrift, und ich konnte es nicht entziffern.
    Auf die anderen Fotos hatte ich kaum einen Blick geworfen, als Johnny Kindred sich wieder umdrehte und sie mit seinem Kopf verdeckte. »Erinnerst du dich?«, fragte er. »Komm, schau, schau.« Er kicherte. Er schaute mich mit fieberhafter Aufregung an, wie ein Kind seine Lieblingstante. »Schau, erinnerst du dich an mich?«
    Ich kam näher heran. Er deutete auf den Jungen im Rüschenhemd auf dem ersten Foto. »Da sind wir zuerst hin.«
    »Zuerst?«
    »Mit dem Zug. Erinnerst du dich nicht mehr an das alte Haus? Den Grafen? Da ist er. Auf den Fotos sah er immer so streng aus. Aber dir hat er gefallen. Du wolltest ihn immer, du weißt schon, bumsen .« Er grinste, als er das Wort aussprach, aber er schien nicht wirklich zu wissen, was es bedeutete. Die Verwandlung war vollkommen.
    »Ich weiß nicht, was du meinst.«
    »Du musst dich daran erinnern. Ich hab so lange auf dich gewartet … Das ist kein Unsinn. Sag Dr. La Loge, er soll mich aufwecken, ich mag nicht mehr.«
    Ängstlich schaute ich den Doktor an. Er zuckte mit den Achseln. »Das ist ganz neu«, sagte er. Aber er unternahm nichts, um mir beizustehen. Ganz offensichtlich war er wesentlich
mehr an neuen Erkenntnissen über Johnny Kindred interessiert als an mir.
    Johnny packte mich am Arm. Er zerrte mich zu sich. Er war überraschend kräftig. Er schob mich aufs Bett, zwang mich, das Bild noch einmal anzusehen. »Siehst du dich nicht? Du bist auf allen Bildern! Siehst du, siehst du?«
    Ich schaute. Auf den anderen Bildern war zum Teil dieselbe Gruppe zu sehen - vor einem verlassenen Bahnhof im alten Westen - vor einem Saloon irgendwo, vielleicht hier in South Dakota, der große Mann händeschüttelnd mit einem anderen Mann, der wie ein Offizier aussah - dann eine schneebedeckte Ebene mit wenigen Menschen. Die einzigen, die auf allen Fotos abgelichtet waren, waren der Graf (wie ich ihn in Gedanken bereits nannte) und die steife Frau. »Wer ist das?«, fragte ich.
    »Du willst mich reinlegen, wie damals im Zug nach Wien. Aber ich will keine Ratespiele spielen. Das bist du, Speranza Martinique.«
    Plötzlich wurde mir kalt. Speranza - Hoffnung - Hope. Hope Martin. Meine Urahnin. Ich starrte auf das Gesicht der Frau. Sie wirkte zänkisch und verkniffen. Sie passte nicht im Geringsten in mein Selbstbild. »Sie ist überhaupt nicht wie ich«, sagte ich widerstrebend.
    »Um die Wahrheit zu sagen«, mischte sich Dr. La Loge ein, »wenn man die viktorianische Kleidung ignoriert, ist die Ähnlichkeit durchaus bemerkenswert. Sie könnten Zwillinge sein. Spielen Sie sein Spiel mit, Carrie. Wir kommen wahrscheinlich an ganz neue Informationen, wenn Sie so tun, als wären Sie die, für die er Sie hält.«
    Ich bekam Panik. Deswegen war ich nicht hergekommen. Ich hatte das Gefühl, dieser Wahnsinnige wollte mich in seine Welt ziehen. Ich starrte auf die alten Bilder, auf die Frau, die mir angeblich so ähnlich sah. Ich mochte sie nicht, ich wollte mit ihr nichts zu tun haben. »Es ist verrückt«, sagte ich. »Ich
will das nicht. Ich habe meine Meinung geändert, ich brauche das alles nicht.«
    Der alte Mann weinte - die mitleiderregende Karikatur eines kleinen Jungen. »Sei nicht so gemein, Speranza.«
    »Ich bin nicht Speranza!«, schrie ich.
    Dann herrschte Stille. Es war, als hätte ich einen Bann gebrochen. Johnny Kindreds Gesicht verwandelte sich abrupt, er sank in sich zusammen und war plötzlich wieder der gebrechliche,

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