Wolfstage (German Edition)
halten?«
»Ja.« Engert nickte. »Ich hab mich noch gewundert …«
»Warum genau?«
»Nun, der Typ wirkte wie ein Schrauber, ein Autoschlosser, jemand,
der sich um den Fuhrpark kümmert und so weiter. Die Frage nach dem Seminar
passte irgendwie nicht zu ihm …« Engert lächelte verlegen. »Verstehen Sie
mich bitte nicht falsch, aber der Mann wirkte nicht wie ein Intellektueller
oder jemand, der sich besonders für Wirtschaftsfragen oder Politik interessiert
oder so.«
Wenn du wüsstest, dachte Johanna. Sie lächelte liebenswürdig zurück.
»Es soll auch Schrauber mit öligen Pranken geben, die sich nicht nur
für Motorräder, Umdrehungszahlen und Fußball begeistern, sondern mit offenen
Augen durchs Leben gehen und freundlich auf ihre Mitmenschen reagieren«, meinte
sie, ohne den süffisanten Tonfall sonderlich zu unterdrücken. »Hab ich
jedenfalls schon von gehört.«
Engert hob die Hände. »Ja, na klar, ich gebe doch nur meinen
Eindruck wieder.«
»Schon verstanden, Herr Engert. Danke vorerst. Vielleicht komme ich
noch mal auf Sie zurück.«
Er warf ihr einen verblüfften Blick zu und stand langsam auf. »Heißt
das, dass ich gehen kann?«
»Das heißt es.«
»Und was hat das alles mit Milan zu tun?«
Das ist eine sehr gute Frage, dachte Johanna. Sie nickte ihm nur zu,
und Engert verabschiedete sich, als er keine Antwort erhielt.
Als die Tür ins Schloss gefallen war, lehnte sich Johanna zurück und
schloss die Augen, um ihre Gedanken zu sortieren.
Eine verschwundene Buchhändlerin erhielt einen Anruf von BKA -Ermittler Wiebor, der als Autoschlosser in der Tagungsstätte
arbeitete und offensichtlich eine Spur verfolgte, in deren Zusammenhang ihn
auch Eva Blum interessierte – warum sonst hätte er ihren Kosmetikladen in
der Zeitung markieren sollen? Einzelheiten zu seinen verdeckten Ermittlungen
kannte niemand, angeblich jedenfalls.
Ein ungeklärter Unfall setzte Lennart zwei Tage später außer Gefecht,
während angeblich Kati einen Tag nach ihrem Verschwinden den Computerfachmann
ihrer Chefin kontaktierte, um einige längst geklärte Fragen erneut
aufzugreifen. Warum? Zwei Tage später wurde ihr Laptop unter falschem Vorwand
aus der Buchhandlung abgeholt. Hatte Eva Blums Nachfrage bei Katis Eltern damit
zu tun?
Und wo genau war die Verbindung zum Tod von Milan Hildmann, dessen
Bruder, mit dem er meist im Clinch gelegen hatte, in der Tagungsstätte im
Reitlingstal arbeitete und seinen Job gern machte?
Johanna atmete angestrengt aus. Damit nicht genug, gab es noch tote
Wölfe, eine überdrehte Journalistin, die damit kokettierte, dass sie sich
besser mit Tieren als mit Menschen verstand, und, nicht zu vergessen, den
Pfeil, den ein Unbekannter bei Gertrud Kreisler eingeworfen hatte. Er hatte
Johanna damit einen entscheidenden Hinweis geliefert.
Gab es hier tatsächlich einen roten Faden, eine gemeinsame Hintergrundgeschichte,
in die alle Fälle verwoben waren? Oder sammelte sie im Moment lediglich
Bruchstücke völlig unterschiedlicher Ereignisse auf, die ihr zufällig in die
Hände fielen?
Schuster steckte den Kopf zur Tür herein. »Alles in Ordnung?«
»Ja, klar – ich grüble nur ein bisschen … Was gibt’s?«
»Zwei Dinge: Sie bekommen ab morgen einen Kripobeamten zur Unterstützung.
Ein junger Mann namens Colin Sander wird hier auflaufen.«
»Wie schön.«
»Zum Zweiten habe ich diesen Gregor Bischoff erreicht. Der ist heute
unterwegs, steht aber Montag für eine Befragung zur Verfügung. Das Alibi von
Henrik bestätigt er in vollem Umfang.«
Johanna rieb sich die Augen und stand auf. »Wir werden morgen
ohnehin ins Reitlingstal fahren, um auch noch mal mit Henrik zu sprechen. Was
ist mit der Gerichtsmedizin?«
»Wahrscheinlich gibt es Montagnachmittag einen Termin. Die melden
sich aber schon vorher, falls es Besonderes zu berichten gibt.«
»Ich bin begeistert. Danke, Schuster. Lassen Sie uns für heute Feierabend
machen. Sonst platzt mir der Schädel.«
9
Volker war bereits zu Hause, als Erika Seibert eintraf. Er
trug seine bevorzugte Sommer-Freizeitkleidung – Poloshirt,
dreiviertellange, leger sitzende Khakishorts, bequeme naturfarbene Sandalen.
Von Weitem wirkte er zehn Jahre jünger, und auch aus der Nähe würde man nicht
vermuten, dass er gerade seinen zweiundfünfzigsten Geburtstag gefeiert hatte.
Durch das dunkelblonde Haar zogen sich graue Strähnen, aber es war immer noch
üppig. Als junger Mann war er fast zu schlank gewesen, sodass ihm nach Ansicht
seiner
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