Wolfstage (German Edition)
scharfer abschätzender Blick, der wie eisiger Ostwind
über sie hinwegglitt. Kluge Augen. Eine schöne reife Frau. Wahrscheinlich eine
Freundin oder Verwandte.
»Guten Tag«, sagte Johanna, blieb stehen und stellte sich vor. »Sie sind
eine Freundin der Familie?«
Die Frau stutzte kurz. »Ja, mein Name ist Erika Seibert. Wir sind Freunde
der Familie Hildmann. Ich war unterwegs, als ich die Nachricht erhielt.«
»Wer hat Sie informiert?«
»Alexander. Alexander Hildmann.«
»Sie kennen beide Söhne der Hildmanns gut?«
Erika Seibert nickte. »Ja, das kann man so sagen.« Sie sah zur Eingangstür.
»Verzeihen Sie, aber ich würde jetzt gern …«
»Natürlich«, sagte Johanna sofort. »Ich will Sie nicht länger
aufhalten als unbedingt nötig. Aber es kann durchaus sein, dass ich Ihnen
demnächst noch einige Fragen stellen muss.«
Erika Seibert hob mit einer winzigen Bewegung das Kinn. Begeistert
ist sie nicht, dachte Johanna, aber vielleicht liegt das an mir.
Seibert nickte, bevor sie sich abwandte, und der abschließende Blick
sprach Bände. Wahrscheinlich würde sie lieber mit Gollum um den Ring feilschen,
dachte Johanna und erlaubte sich ein kleines Grinsen. Sie liebte Gollum –
seine Tragik, seine bizarre Gestalt und seine bis zum bitteren Ende durch
nichts zu erschütternde Treue.
Die junge Frau saß zwischen zwei Männern auf einer Bank im
Wartebereich und fiel Johanna sofort auf, als sie in die Dienststelle
zurückkehrte. Sie hatte ein kindlich volles Gesicht, in dem sich das Entsetzen
widerspiegelte, und Johanna vermutete, dass sie große Mühe hatte, nicht die
Beherrschung zu verlieren.
»Studienkollegen und Freunde von Milan«, erläuterte Schuster mit
gesenkter Stimme, als Johanna zu ihm an den Tresen trat. »Carmen Vogt,
Sebastian Kranich und Michael Engert. Kollegen aus Braunschweig haben sie eben
netterweise vorbeigebracht. Vielleicht fangen Sie mit Carmen Vogt an. Bevor die
uns hier aus den Latschen kippt«, ergänzte er flüsternd, während Johanna einen
Moment verschnaufte und zur Abwechslung ein Glas Wasser trank.
»Ja, mach ich. Versuchen Sie bitte derweil, diesen jungen Mann zu
erreichen: Gregor Bischoff.« Johanna griff nach ihrem Notizheft und hielt es
Schuster hin. »Das ist ein Freund und Kollege von Henrik Hildmann. Wohnt
ebenfalls im Reitlingstal. Angeblich waren die beiden gestern Abend
beziehungsweise die ganze Nacht gemeinsam unterwegs.«
Sie stellte das Glas beiseite, drehte sich zu Carmen Vogt um und
lächelte sie aufmunternd an. »Kommen Sie bitte mit mir?«
Im Vernehmungsraum saß Carmen Johanna mit hochgezogenen Schultern
gegenüber. Das hellblonde strähnige Haar war verschwitzt, die rötliche
Gesichtsfarbe hätte Johanna bei einem älteren Menschen auf Bluthochdruck tippen
lassen.
»Waren Sie sehr eng mit Milan befreundet?«, fragte Johanna, nachdem
sie den Rekorder zurechtgerückt und eingeschaltet hatte.
»Ja, das kann man sagen. Ich bin völlig …« Carmen Vogts
Unterlippe begann zu zittern.
»Ich verstehe. Ich werde mich kurz fassen«, erwiderte Johanna.
»Waren Sie ein Paar?«
Kopfschütteln. »Nein, das nicht, aber …«
Sie war in ihn verliebt, vermutete Johanna.
»Wir kannten uns schon eine ganze Weile und …« Carmen
schluckte. »Es hätte was draus werden können, wenn Sie verstehen …?«
»Durchaus. Sie waren gestern Abend verabredet – wo und wann?«
»Im Anno 1826, direkt im Univiertel. Sebastian, Micha und seine
Freundin Tina, Milan und ich. Etwa um sechs Uhr. Wir wollten was trinken und
später noch in einen Club, tanzen und so weiter. Das war ungefähr der Plan,
aber …«
»Haben Sie sich nicht gewundert, dass Milan nicht gekommen ist?«
»Nein, er hatte nicht fest zugesagt, weil er schon den ganzen Tag
unterwegs war und nicht hundertprozentig wusste, ob er noch Lust haben würde,
um die Häuser zu ziehen. Um fünf haben wir kurz telefoniert – da meinte er
zwar, dass er höchstwahrscheinlich noch zu uns stoßen würde, vorher aber ein
paar Takte mit seinem Bruder reden müsste. Als ich ihn später noch mal zu
erreichen versuchte, war nur die Mobilbox dran, und ich bin davon ausgegangen,
dass er sich doch anders entschieden hatte.«
»Wann war das?«
»Gegen acht glaube ich. Wir hatten vor, das Lokal zu wechseln, und
ich wollte ihm Bescheid sagen.«
Johanna lehnte sich zurück und betrachtete Carmen Vogt, die ihre
Hände knetete und die Kommissarin mit schreckgeweiteten Augen anblickte.
»Ist es seine Art, das Handy
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