Wolfstage (German Edition)
Tagungsstätte im Reitlingstal, und er wohnt
dort auch. Wissen Sie von Konflikten, die damit zusammenhängen könnten?«
»Henrik ist von seinem Job ziemlich angetan – vielleicht das
erste Mal, dass er von irgendwas angetan ist. Soweit ich weiß, nervte es Milan,
wie er seinen Chef und die Kollegen in den Himmel hebt und wie wichtig er
seinen Job nimmt.«
»Aha. Milan wollte gestern mit seinem Bruder noch ein ernstes Wort
reden. Können Sie sich vorstellen, worum es dabei ging?«
»Wenn Sie ein konkretes Thema hören wollen – nein.«
Johanna hatte keine andere Antwort erwartet und ließ die Befragung
ausklingen. Sie befürchtete, dass das Gespräch mit Michael Engert ähnlich
verlaufen und genauso unergiebig sein würde. Miteinander im Clinch liegende und
völlig unterschiedliche Brüder gab es in zig Familien. Als interessant wertete
sie jedoch den Hinweis auf das Reitlingstal.
Sebastian Kranich verließ das Zimmer, und kurz darauf nahm Michael
Engert seinen Platz ein. Er studierte ebenfalls Medien-Design, war aber ein
Jahr weiter als Milan und Sebastian. Engert hatte hellblaue kluge Augen, ein
glatt rasiertes Gesicht und wirkte muskulös und durchtrainiert – ein
junger Mann, der viel Sport trieb, schätzte Johanna. Außerdem sah er gefasst
und konzentriert aus. Die Kommissarin lehnte sich zurück und gähnte
unterdrückt. Noch diese Befragung und dann mache ich Feierabend, dachte sie.
»Kennen Sie die Tagungsstätte Reitlingstal?«, fragte sie ohne Einleitung.
»Klar. Dort arbeitet Milans Bruder Henrik, und ich habe da kürzlich
ein Seminar besucht, das er mir empfohlen hatte.«
Johanna zog eine Augenbraue hoch. »Bei welcher Gelegenheit haben Sie
mit Henrik gesprochen?«
»Milan hat zu Hause eine Fete gemacht – das liegt vielleicht
zwei, drei Monate zurück –, und Henrik tauchte irgendwann auch auf,
zufällig. Wir kamen kurz ins Gespräch.«
Johanna sah ihn abwartend an.
»Milan und er haben sich nicht sonderlich gut verstanden«, fuhr
Michael schließlich fort. »Ich persönlich bin der Meinung, dass es schlimmere
Typen als Henrik gibt. Die beiden sind einfach zu unterschiedlich, um auf einer
Wellenlänge zu liegen, das ist alles. Außerdem ist es nicht einfach, ständig
mit einem Everybody’s-Darling-Bruder konkurrieren zu müssen. Das ist jedenfalls
meine Einschätzung.«
Interessant, dachte Johanna. »Was für ein Seminar war das?«
»Wirtschaftliche und kulturelle Integrität als gesamteuropäische
Herausforderung – so lautete der Titel. Ich fand’s ganz aufschlussreich,
und der Dozent hatte was … ja: Fesselndes.«
»Was hielt eigentlich Milan davon, dass Sie dort das Seminar
besuchten?«
Michael Engert lächelte kurz. »Fand er ziemlich dämlich. Wirtschaftsthemen
waren aber grundsätzlich nicht sein Ding, und Empfehlungen von Henrik hat er
selten ernst genommen. Das hat mein Interesse allerdings nicht geschmälert.«
Johanna nickte. Nach kurzem Grübeln griff sie in ihren Lederrucksack
und zog die Kati-Lindner-Wiebor-Akte heraus, um Engert die Fotos der beiden
vorzulegen. Der Student schüttelte den Kopf, als er sich die Aufnahmen der
Buchhändlerin ansah.
»Kenne ich nicht«, meinte er sofort. »Leider«, schob er charmant
hinterher.
Beim Betrachten der Wiebor-Fotos hielt er inne. Johanna beugte sich
ein Stück über den Tisch vor.
»Der kommt mir irgendwie bekannt vor«, sagte er zögernd. »Aber ich
weiß nicht, wo ich ihn hinstecken soll.«
»Sind Sie öfter mal in Schöppenstedt?«
»Nein.«
»Oder in der Buchhandlung Gertrud Kreisler, hier in Königslutter?«
Kopfschütteln. »Was macht der Typ so?«
Johanna überlegte kurz. »Er fährt gern Motorrad.«
Michael Engert sah hoch. »Genau! Das Seminar im Reitlingstal fand an
drei Wochenenden statt, das letzte war vor vierzehn Tagen. Ich habe in der
Mittagspause einen Spaziergang übers Gelände gemacht und kam an einer Garage
vorbei – eher so was wie eine kleine Werkstatt. Der Typ bastelte an einem
Wagen rum. Ein Motorrad stand im Freien. Ziemlich schickes Teil.«
»Sind Sie mit ihm ins Gespräch gekommen?«
Engert nickte. »Ja, ganz kurz. Ich habe ihn gefragt, ob ihm das Bike
gehört, wie schnell es fährt und wie viel Hubraum es hat. So was in der Art.«
»Und weiter?«
Engert überlegte. »Ich wollte gerade weitergehen, da fragte er mich
plötzlich, ob mir das Seminar gefällt und wie ich Taschner finde, den
Dozenten.«
Johanna machte sich rasch eine Notiz. »Er wollte wissen, was Sie von
Taschner
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