Wolfstage (German Edition)
auszuschalten?«
»Manchmal – wenn er nicht gestört werden will. Beim Musikhören
zum Beispiel oder beim Joggen.«
Johanna nickte langsam. »Hat Milan erläutert, worüber er mit seinem
Bruder sprechen wollte?«
»Die beiden waren sich häufig nicht grün«, erwiderte Carmen. »Milan
hat sich so manches Mal über Henrik aufgeregt …«
»Kennen Sie ihn persönlich?«
»Kennen ist zu viel gesagt – wir sind uns mal bei Milan über
den Weg gelaufen.«
»Worüber genau hat Milan sich ereifert, Frau Vogt?«
Carmen legte die Hände auf den Tisch und trommelte kurz mit den
Fingern. »Milan und Henrik haben sich noch nie besonders gut verstanden –
wie das manchmal bei Brüdern vorkommt –, aber in letzter Zeit …
Henrik habe sich mit irgendwelchen Leuten eingelassen, die großen Einfluss auf
ihn hätten, meinte Milan.«
Johanna setzte sich wieder aufrecht hin. »Geht das konkreter?«
Carmen rieb sich die Stirn. »Ich weiß nicht genau … es hing mit
Henriks Job zusammen. Milan erzählte, dass Henrik, seitdem er im Reitlingstal
arbeitete, ziemlich behämmerte Ansichten vertreten würde.«
»So drückte er sich aus – behämmerte Ansichten? Und was könnte
er Ihrer Meinung nach damit gemeint haben?«
»Ach, wissen Sie, ich war an diesen Familienstreitigkeiten nicht
wirklich interessiert«, entgegnete Carmen Vogt. »Wie gesagt, ich kenne Henrik
kaum, geschweige denn die Leute, mit denen er sich abgibt. Milan fand die
bescheuert, und noch bescheuerter fand er, dass sein Bruder ihnen
offensichtlich irgendwie nacheiferte – so ungefähr kam das bei mir an.
Mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen.«
»Verstehe. Draußen warten Sebastian und Michael«, meinte Johanna.
»Könnte man sie als enge Freunde von Milan bezeichnen?«
»Ich denke schon. Besonders Sebastian, würde ich sagen. Die beiden
sind in einem Semester und machen auch sonst viel zusammen.«
»Frau Vogt, ich danke Ihnen erst mal. Schicken Sie doch bitte
Sebastian zu mir. Und hinterlassen Sie bei meinem Kollegen Ihre Kontaktdaten –
falls sich noch Fragen ergeben.«
Carmen stand schnell auf. »Ja, natürlich.« Zögernd ging sie zur Tür,
dann gab sie sich einen Ruck. »Was genau passiert ist, können Sie noch nicht
sagen?«
»Nein. Tut mir leid«, entgegnete Johanna. »Wir wollen nicht spekulieren.«
Carmen nickte eilig. »Okay.«
Der junge Mann, der kaum eine Minute später Johanna gegenüber Platz
nahm, sah älter aus als dreiundzwanzig und bemühte sich um Haltung. Er trug
Vollbart, hatte dunkle traurige Augen und war auffallend mager. Sieht ein
bisschen aus wie ein junger, sehr dünner Cat Stevens, dachte Johanna.
»Hatte Milan Feinde?«
Die Frage verblüffte Sebastian Kranich. Er schüttelte sofort den
Kopf. »Nein, ganz bestimmt nicht«, erwiderte er bestimmt. »Milan war
ausgesprochen beliebt – bei Frauen und Männern.«
»Wie lange kennen Sie sich?«
»Seit circa drei Jahren. Wir haben uns als Praktikanten bei der
Braunschweiger Zeitung kennengelernt und dann gemeinsam mit dem Studium
begonnen.«
»Milan wohnte noch zu Hause – war er ein Typ, der das
Hotel-Mama-Prinzip ausreizte?«, fuhr Johanna fort.
Ein winziges Lächeln ließ Kranichs Bartspitzen erzittern, während
durch Johannas Kopf plötzlich Kati Lindner geisterte. Auch sie hatte, obwohl
Mitte zwanzig und finanziell auf eigenen Beinen stehend, noch zu Hause gewohnt.
»Vielleicht ein bisschen«, stimmte Sebastian Kranich zu. »Er hat sich
zu Hause sehr wohl gefühlt, und natürlich ist es bequem, wenn die Wäsche
erledigt wird und der Kühlschrank immer gut gefüllt ist, ohne dass man sich
großartig darum kümmern muss. Aber hauptsächlich ging es Milan wohl um den
Reitverein. Er hat da viel gemacht, hatte sein eigenes Pferd und so weiter.«
»Wie war das Verhältnis zu seinem Bruder?«
»Schwierig. Die hatten dauernd Stress. Henrik ist im Gegensatz zu seinem
Bruder ein ziemlicher Eigenbrötler, dem nichts leicht von der Hand geht, und er
ist nicht sonderlich beliebt – das nimmt er Milan übel. So jedenfalls mein
Eindruck.«
»Kennen Sie Henrik persönlich?«
»Ja, aber nur vom flüchtigen Sehen. Ich war immer verblüfft, dass
die beiden Brüder sind … waren.« Sebastian schluckte.
»Hatten die beiden Lieblingsthemen, bei denen regelmäßig die Fetzen
flogen?«
»Es war wohl eher so, dass es kein Thema gab, bei dem Einigkeit herrschte.
Vielleicht könnte man auch sagen, dass sie ständig die Auseinandersetzung
suchten.«
»Henrik arbeitet in der
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