Wolfstage (German Edition)
Mann mit einem Mund, der wehe Gefühle in ihr
wachrief, konnte ihr das geben, wonach sie sich schon immer gesehnt hatte –
ohne es zu wissen.
Volker hatte einige Jahre zuvor vorgeschlagen, ihre Partnerschaft zu
»modernisieren« und für außereheliche sexuelle Abenteuer zu öffnen –
selbstverständlich absolut diskret, um keinesfalls das Ansehen der Familie und
ihre beruflichen Pläne zu gefährden. Sie hatte zugestimmt, als wäre ihr diese
Idee unlängst auch schon gekommen, und sich dabei wie ein dringend
sanierungsbedürftiges Schlafzimmer gefühlt. Eine Weile hatte sie sich selbst
bemitleidet, aber schließlich entschieden, dass sie Volker in nichts
nachzustehen bräuchte. Was er konnte, konnte sie schon lange – beruflich
und privat.
Natürlich traf sie sich wieder mit Steffen. Am Anfang existierte zwischen
ihnen nichts anderes als prickelnde Erotik und hemmungslose Gier, jede nur
denkbare sexuelle Variante auszuprobieren, je zügelloser und phantasievoller,
desto besser. Ihr war schnell klar, dass sie für Steffen ein Spielzeug war –
eines von mehreren. Das passte zu ihm. Und es war gut so. Er behandelte sein
Spielzeug ausgesprochen liebevoll. Nur darum ging es. Erika schnitt das Thema
nie an.
Sie war verrückt nach ihm, ohne verliebt zu sein, geschweige denn
ihn zu lieben. Zumindest sagte sie sich das. Steffen tat ihr rundum gut, und
das Leben ging ihr bestens von der Hand: Volker erklärte immer wieder
anerkennend, wie gut sie aussah; der siebzehnjährige Sohn Moritz kümmerte sich
ohnehin um seine eigenen Belange. Ihr Architekturbüro lief wie am Schnürchen,
während ihr Mann dabei war, in die Geschäftsführung der Autostadt Wolfsburg aufzusteigen.
Ein Karrieresprung, für den er lange und hart gearbeitet hatte.
Erika entschied, dass das kleine Wochenendhaus am Tankumsee, das
ihren Eltern gehörte, aber nach deren Umzug in eine Seniorenresidenz nur noch
selten genutzt wurde und das sie eigentlich hatte verkaufen wollen, wunderbar
als Liebesnest geeignet war. Kaum jemand kannte sie dort, das Häuschen lag
geschützt und abgelegen, Volker fuhr nur selten hinaus, und Erika musste nicht
mehr in der Reitanlage über die Hintertreppe in Steffens Zimmer schleichen und dabei
Gefahr laufen, jemandem zu begegnen. Sie hatten ihr eigenes Reich. Sie war
glücklich. Zu glücklich.
Das Unheil kündigte sich nicht an. Sie hatte weder Vorahnungen noch
einen schlechten Traum. Steffen hatte ihr an einem Freitagnachmittag eine SMS geschickt und sie gebeten, zu ihm zu kommen.
»Es gibt Fotos«, sagte er, kaum dass sie am Esstisch in seinem
Zimmer Platz genommen hatten.
Sie hielt den Atem an. Ihr Blutdruck schnellte hoch. Das war ein
schlechter Scherz. »Fotos? Von uns?«
Steffen nickte langsam. »Unter anderem.«
»Was heißt unter anderem?«
»Nun …«
Steffen reichte ihr den Umschlag über den Tisch, und sie öffnete ihn
hastig. Fotos von ihr und Steffen im Wochenendhaus. Die abgebildeten Szenen
ließen nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig. Flammende Röte schoss ihr
übers Gesicht, und eine Welle von Übelkeit stieg in ihr hoch. Wenn diese Bilder
in die falschen Hände gerieten, konnte sie die beiden fetten Bauaufträge, um
die sie sich gerade bemühte, abschreiben, und Volker würde zum Gespött in der
Autostadt werden …
Nach vier, fünf Aufnahmen wechselte plötzlich ein Protagonist im
Liebesspiel. Erika merkte zunächst gar nicht, was auf einmal anders war. Sie
nahm ein weiteres Foto zur Hand, stutzte dann, griff wieder zum vorherigen und
hielt abrupt inne. Das war nicht möglich. Um Gottes willen! Sie hob den Kopf
und sah Steffen entsetzt an. Ihr Magen war kurz davor, einen Salto zu schlagen.
Steffens anderer Liebespartner war Moritz. Steffen war schwul. Oder
bisexuell. Und er hatte ein Verhältnis mit ihrem siebzehnjährigen Sohn. Als
wäre all das nicht genug, gab es Fotos davon. Erika spürte plötzlich ein
Rauschen in den Ohren.
»Wieso seid ihr an den Tankumsee gefahren?«, fragte sie nach einer
schier endlos scheinenden Pause, und sie hatte Mühe, ihre eigene Stimme zu
erkennen. In unser Haus, fügte sie stumm hinzu.
»Es war seine Idee.«
Sie sah ihn an.
»Meine Güte – ist das deine einzige Sorge? Wir werden erpresst«,
entgegnete Steffen schließlich heftig.
»Erpresst? Gibt es ein Schreiben?«
Er nickte. »Es liegt bei den Fotos.«
Der Brief war nichts weiter als ein DIN-A 5-Blatt mit ausgeschnittenen
Zeitungsbuchstaben. Hunderttausend Euro in bar – sonst würden die
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