Wolfstage (German Edition)
Fotos
die Runde machen: in Königslutter und Wolfsburg. Genaue Anweisungen später. Wie
in einem billigen Krimi, dachte Erika dumpf. Ihre Hände zitterten.
»Hast du einen Verdacht?«, fragte sie.
»Ja … doch, ein Freund von mir. Ich kann es zwar nicht
beweisen, aber er ist ziemlich eifersüchtig … und außerdem Fotograf. Bis
vor einigen Tagen war er in einer Familienangelegenheit in Königslutter. Du
kennst ihn: Tibor Kranz.«
Erika starrte Steffen entgeistert an. Sie kannte Tibor seit ewigen
Zeiten aus dem Reitverein und war ihm auch in den letzten Wochen mehrfach
begegnet. Niemals würde sie ihm eine Erpressung zutrauen. Aber sie hatte sich
selbst auch nicht zugetraut, einem jungen Reitlehrer mit Haut und Haaren zu
verfallen, und ihr war nicht bewusst gewesen, dass ihr Sohn schwul und das
Leben kein Spiel war.
»Außerdem ist er in Geldschwierigkeiten«, fügte Steffen hinzu.
Erika nickte abwesend.
Bereits am nächsten Tag traf der zweite Brief mit den Anweisungen
für die Übergabe ein. Erika sollte das Geld in einem Café in der Wolfsburger
Fußgängerzone unauffällig in einem Plastikbeutel an der Garderobe hängen lassen
und das Lokal dann umgehend wieder verlassen. Die restlichen Aufnahmen sowie
die Negative fänden sich anschließend bei Steffen im Briefkasten. Eine leicht
zu bewältigende Aufgabe, die sie wie betäubt erledigte. Wenn sie Pech hatte –
noch mehr Pech –, würde dieser ersten Erpressung eine zweite folgen. Und
eine dritte.
Nichts war mehr wie vorher. Der verspielte lustvolle Traum, in den
Steffen sie immer wieder entführt hatte, war geplatzt wie die
berühmt-berüchtigte Seifenblase. Zurückgeblieben war Schalheit und Entsetzen,
Kälte und Leere. Während sie ihm im Reitverein aus dem Weg ging, wurde ihr
klar, wie abhängig sie sich gemacht hatte, wie sträflich leichtsinnig sie
gewesen war, und sie verachtete sich selbst dafür.
Moritz war ihr irritierend nah und fremd zugleich. Sie konnte ihm
kaum in die Augen sehen und war froh, dass sie sich selten über den Weg liefen.
Volker hatte glücklicherweise rund um die Uhr in der Autostadt zu tun. Wenn er
zu Hause war, bemühte sie sich, das Gesicht zu wahren.
Als sie Steffen das nächste Mal allein in der Reithalle antraf, ahnte
sie nicht, dass dies ihre letzte Begegnung sein würde, aber sie wäre
erleichtert gewesen. Sie sah ihn an und spürte den bitteren Nachgeschmack einer
längst vergangenen Affäre. Die Fragen, die sie auf dem Herzen hatte, waren
nicht mehr wichtig.
»Lass bitte Moritz in Ruhe«, sagte sie plötzlich.
Ein seltsam lauerndes Lächeln huschte über sein Gesicht. »Warum?
Meinst du, er ist dann weniger schwul?«
Die Bemerkung klang in ihr nach. Die kaum verhüllte Provokation
auch. Sie schüttelte langsam den Kopf. »Darum geht es nicht. Ich will nicht,
dass er verletzt wird.«
»Ach so.« Er lächelte immer noch. »Okay. Weil du es bist.«
Sie konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, ob es die nonchalante
Handbewegung war, die seine Worte begleitete, oder das breiter werdende
Lächeln, das sie irritierte. Vielleicht machte auch das perfekte Zusammenspiel
von Mimik und Gestik sie plötzlich stutzig – jedenfalls durchdrang sie auf
einmal eine dumpfe Ahnung. Er streckte die Hand nach ihr aus, als wollte er ihr
Gesicht berühren. Sie wich ihm aus, wandte sich um und ging ohne ein weiteres
Wort. Sein Blick brannte in ihrem Rücken, und sie hörte sein leises Lachen.
Das war das grausam banale Ende der intensivsten Affäre, die sie je
durchlebt hatte. Einer Affäre, deren Echo sie viele Jahre später nun einholte.
Als Steffen in der darauffolgenden Woche von einem Tag auf den
anderen verschwand, ohne sich von irgendjemandem zu verabschieden, wunderte sie
sich im Gegensatz zu vielen anderen keinen Augenblick darüber. Ihr wurde
endlich klar, dass sie unglaublich dumm gewesen und auf einen gerissenen Gauner
hereingefallen war, der sich über ihre unersättliche, blinde Verliebtheit
kaputtgelacht hatte und sich nun mit ihrem Geld ein schönes Leben machte –
vielleicht mit Tibor an seiner Seite. Vielleicht mit jemand anderem.
Immerhin hatte sie sich seitdem nicht mehr verliebt. Affären galten
von da an wirklich nur noch einem einzigen Zweck: der schnellen und ansonsten
sinnentleerten Befriedigung. Zu Moritz hatte sie nie wieder ein unbeschwertes
Verhältnis entwickeln können, und in das Wochenendhaus am Tankumsee fuhr sie
gar nicht mehr. Als Volker anfing, sich fürs Segeln zu interessieren und
vorschlug,
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