Wolfstage (German Edition)
bald eingeschlafen
sein.«
Panik verengte Tibors Hals, zugleich fielen ihm die Augen schon fast
zu. Er konnte nichts sagen, entgegnen, antworten, nicht mal eine Frage nach dem
Irrsinn stellen, der sich hier gerade abspielte.
Seibert war groß und sportlich gebaut. Er hatte keine Mühe, Tibor
auf die Beine zu stellen. Schwindel ließ den Boden unter ihm wanken. Volker
packte fest zu, stellte ihn an die Wand neben der Haustür und fixierte ihn mit
seinem Körper. Dann öffnete er leise die Tür und lauschte einen Moment in die
Dunkelheit. Alles war still. Wahrscheinlich war es später Abend. Niemand würde
etwas mitbekommen – und selbst wenn: ein davonfahrendes Auto oder eine
klappende Tür waren nun wirklich nichts Besonderes.
Tibor betrachtete Seibert von der Seite, was gar nicht so leicht
war, weil der Schwindel immer stärker wurde. Ein sympathisches, gut
geschnittenes Männergesicht mit einem offenen und intelligenten
Gesichtsausdruck. Wäre Tibor ihm unter anderen Umständen begegnet, hätte er ihm
alles Mögliche zugetraut, aber sicherlich keinen Überfall oder eine Entführung.
Die alte Binsenweisheit, dass den wenigsten Gesichtern die Verbrechen anzusehen
waren – und umgekehrt –, bestätigte sich mal wieder. Fragte sich nur,
was Tibor jetzt noch davon hatte.
Innerhalb von zwei Minuten hatte Seibert Tibor auf die Rückbank
seines Wagens bugsiert. Er bekam gerade noch mit, wie sein Entführer den Motor
startete. Dann wurde es still und schwarz.
***
Der Anruf kam spät.
»Wir haben sie verloren«, sagte Colin ohne Einleitung.
»Wohin ging die Fahrt?«
»Zuerst nach Braunschweig. Dort haben sie in aller Gemütsruhe was
gegessen und sind ganz gemächlich zurückgefahren, um dann aber noch mal auf der
L290
bis Ochsendorf und von dort auf die A2 in Richtung Berlin zu fahren. Da hat
Peters dann so richtig auf die Tube gedrückt.« Er klang frustriert. »Mit dem
Audi können die locker zweihundertzwanzig Sachen hinlegen. Das schafft der
kleine Golf natürlich nicht.«
»Meinen Sie, die beiden haben mitgekriegt, dass sie observiert wurden?«
»Das können wir nicht ausschließen. Wir waren vorsichtig, aber es
ist ja schon merkwürdig, dass sie nicht gleich in Braunschweig auf die Autobahn
gefahren sind.«
»Ja, in der Tat. Peters ist ein Profi. Nun gut, das ist jetzt nicht
mehr zu ändern.«
»Was sollen wir machen? Noch mal ins Reitlingstal fahren? Vielleicht
war das ein Ablenkungsmanöver.«
Johanna seufzte. »Es geht schon auf Mitternacht zu. Morgen ist auch
noch ein Tag. Machen Sie Feierabend.«
»Okay. Falls doch noch was sein sollte – wir lassen die Handys
natürlich an.«
»Danke. Schlafen Sie gut.«
***
Der erste Gedanke war, dass sich sein Kopf taub anfühlte
und sein Körper wie zerschlagen. Als hätte er nach einer durchzechten Nacht
falsch gelegen, ohne es zu bemerken. Der zweite war die schlichte Frage, was
eigentlich los war. Er hatte nicht gezecht. Er hatte fürchterlichen Durst. Er
lag auf dem Fußboden und war gefesselt. Wie vorhin. Die Erinnerung stieß wie
eine geballte Faust zu.
Tibor drehte behutsam den Kopf. Das kleine Wohnzimmer war ihm völlig
unbekannt. Ein holzverkleideter Raum im Dämmerlicht, das eine heruntergedimmte
Stehlampe spendete. Zwei Fenster mit Vorhängen, die zugezogen waren. Im
Hintergrund war eine schmale Treppe zu erkennen, rechts daneben eine
Küchenzeile, links eine Tür. Sein Entführer saß auf einem Korbsessel und
betrachtete ihn. Tibor spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Wo sind
wir?, wollte er fragen, aber das Klebeband hinderte ihn daran. Er stöhnte.
»Ich werde es entfernen«, sagte Seibert ruhig. »Solltest du auf die
Idee kommen zu schreien, so lass dir zweierlei sagen – erstens hört dich
hier ohnehin niemand. Und zweitens: Sobald die Gefahr besteht, dass dich jemand
hören könnte, wirst du nicht mehr in der Lage sein, auf dich aufmerksam zu
machen.« Er unterstrich seine Worte mit einem absurd freundlichen Lächeln. »Abgesehen
davon, werde ich dir nicht nur sehr, sondern ganz besonders wehtun, wenn du
mich zu verarschen versuchst, kapiert?«
Tibor nickte vorsichtig. Das Taubheitsgefühl schwand allmählich, und
die rasenden Kopfschmerzen hatten sich auf ein erträgliches Niveau reduziert.
Wenigstens etwas.
Seibert stand auf und kniete sich neben ihn. Er riss das Band mit
einem Ruck herunter. Fast hätte Tibor aufgeschrien. Er schmeckte Blut.
»Bitte, ich brauche etwas zu trinken«, krächzte er. Was zum Teufel
hatte
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