Wolfstage (German Edition)
schlug ein Bein über das andere. »Ist schon eine merkwürdige Zeit.«
Er schwieg einen Augenblick.
»Milan war bereits tot, als ich heute eine Mail von ihm in meinem
Postfach vorfand«, fuhr er plötzlich fort. »Die hatte er Samstagabend
geschickt, nachdem wir meinen Geburtstag gefeiert hatten. Mein Gott – ist
das erst zwei Tage her?«
Das interessiert mich alles einen ziemlichen Scheißdreck, dachte
Tibor, und gratulieren werde ich dir auch nicht, aber erzähl ruhig weiter. Der
Schmerz im Schritt ebbte nur allmählich ab.
»Er wollte mich warnen. Das finde ich sehr nett von ihm. Willst du wissen,
wovor?«
»Ja.«
Seibert fing an zu grinsen. »Es ist dir völlig egal, was ich
erzähle. Hauptsache, die Zeit vergeht, oder?«
Dazu sagte Tibor lieber nichts. Aber natürlich hatte Seibert ins
Schwarze getroffen. Er könnte auch einen Vortrag übers Klöppeln halten.
»Nun, auf eine halbe Stunde mehr oder weniger kommt es in der Tat
nicht an«, sagte er und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Milan war davon
überzeugt, dass in der Tagungsstätte im Reitlingstal, in dem sein älterer
Bruder Henrik mit Feuereifer arbeitet, ein ziemlich übler Haufen sein Unwesen
treibt. Nachdem Henrik auf meinem Geburtstag vorgeschlagen hatte, ich könne
dort doch mal einen Vortrag über Unternehmensführung am Beispiel der Autostadt
halten, hat Milan mir Broschüren mit ausgesprochen markigen Texten zu
Wirtschaft und Politik im Anhang mitgeschickt und Fotos, die verdammt nach
Pfadfinder-Romantik aussehen – und zwar von einer deutlich braun gefärbten
Sorte, wie er das bezeichnete. Ich stimme ihm zu – damit möchte ich
wirklich nichts zu tun haben. Ich hätte mich gerne bei ihm bedankt …«
Seibert räusperte sich. »Das Material hatte er einem Studienkollegen
abgeluchst, der dort mal ein Seminar mitgemacht hat …«
Tibor runzelte die Stirn. »Pfadfinder-Romantik?«
»Ja – Gruppenzusammenhalt festigen beim Wandern, Ausreiten, Natur
beobachten, Klettern, Jagen, Bogenschießen …«
»Emilie Funke hat Wolfskadaver gefunden, die mit Pfeilen
abgeschossen wurden«, fiel Tibor ihm ins Wort.
Seibert sah ihn nachdenklich an. »Und das ist keine Spinnerei?«
»Nein, die Polizei hat die Kadaver sichergestellt – übrigens
ganz in der Nähe von Milans Leiche.«
»Merkwürdiger Zufall.«
»Vielleicht mehr als das.«
Seibert zuckte die Achseln. »Wir werden sehen … Vielmehr: Ich
werde sehen.« Er lächelte.
Tibor schrak zusammen. »Ist das wirklich nötig? Warum einen zweiten
Mord begehen? Reicht es nicht, dass …«
Seibert lachte laut auf. Einen Moment lang wirkte er tatsächlich
belustigt. »Das Risiko ist viel zu groß, und das weißt du auch.«
»Man wird Sie schnappen – früher oder später.«
»Das kann sein, aber noch habe ich einen erheblichen Vorsprung, und
ich gedenke, ihn auszunutzen.«
»Man wird nach mir suchen, und man wird mich wahrscheinlich finden.«
»Da wäre ich nicht so sicher … Steffen ist übrigens hier an
dieser Stelle gestorben. Anschließend habe ich ihn unter dem Carport vergraben.
Später habe ich die Zufahrt mit Steinplatten ausgelegt. Für dich ist da auch
noch Platz. Du wirst also neben deinem Liebsten liegen. Ist das nichts?«
Tibor starrte Seibert fassungslos an, während ihm ein Schauer über
den Rücken lief. War das wirklich sein Ernst? Tibor spürte, dass er zitterte.
»Niemand hat mich oder gar uns beide gesehen, als ich vorhin hier
eintraf«, fuhr Seibert fort. »Die Nachbarn rechts und links sind im Urlaub, und
unter der Woche geht es auch am Tankumsee ziemlich ruhig zu – zumindest
nachts und in den frühen Morgenstunden. Und bei dir zu Hause war ich so
vorsichtig, den Wagen in die Garage zu fahren.«
Tibors Herz hämmerte schmerzhaft gegen die Rippen. »Steffens
Verschwinden hat keinerlei Aufsehen erregt. Niemand hat sich darum gekümmert,
weil der Zeitpunkt gut gewählt war und es keinen gab, der intensiver
nachgefragt hat. Nach mir wird jedoch schnell gesucht werden.«
Seibert winkte ab. »Das sagtest du bereits. Und ich frage erneut: Na
und? Fällt dir nicht mehr ein?«
»Und ich bleibe dabei: warum?«, schob Tibor schnell hinterher.
Seibert setzte eine bedauernde Miene auf. »Jetzt wirst du langweilig.«
Stimmt, dachte Tibor, während er versuchte, die Hektik in Schach zu
halten, die seine Stimme so unangenehm hoch klingen ließ. Ich muss mir was
Besseres einfallen lassen und dafür sorgen, dass er weiterredet. Zeit. Ich
brauche Zeit. Mehr Zeit. Und noch
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