Wolfstage (German Edition)
ins Büro ging. Sie orderte zwei Tassen
Kaffee, die unverzüglich gebracht wurden. Hildmann starrte ins Leere.
»Hat er es getan?«, fragte er plötzlich. »Hat Henrik wirklich etwas
mit dem Tod seines Bruders zu tun? Sagen Sie es mir!«
»Es gibt noch keine hundertprozentig gesicherten Erkenntnisse. Es
kann ein Unglück gewesen sein«, entgegnete Johanna zurückhaltend.
Hildmann strich sich durchs Haar. »Ein Unglück – ja … Ja,
natürlich. So oder so. Aber diese Vermutung allein würde wohl kaum für eine
Festnahme ausreichen. So weit kenne ich mich auch aus.«
Darauf antwortete Johanna nicht. Sie trank einen Schluck von ihrem
Kaffee und verzog das Gesicht. Schuster kochte eindeutig besseren. Sie blickte
Hildmann an. Vielleicht sollte sie sich ganz auf ihren Job konzentrieren. »Herr
Hildmann, lassen Sie uns miteinander reden«, schlug sie schließlich vor.
Er nickte abwesend.
»Was war das für ein Streit, der am Samstag zwischen Milan und Henrik
entbrannt ist?«, fragte sie. »Hat Ihr Freund Seibert damit zu tun?«
Alexander Hildmann runzelte die Stirn. »Henrik wollte Volker als
Gastdozent werben – darüber hat Milan sich ereifert. Was ist so Besonderes
daran?«
»Die Brüder müssen sich heftig gestritten haben, wahrscheinlich auch
noch, als sie gemeinsam aufbrachen.«
»Ich habe nicht so genau –«
»Henrik schmeißt sich richtig ins Zeug, was seinen Job in der
Tagungsstätte angeht, nicht wahr?«, unterbrach Johanna ihn. »Und Taschner
vertritt recht robuste Thesen, wenn ich es richtig verstanden habe.«
Ein winziges Lächeln huschte für den Bruchteil einer Sekunde über
Alexander Hildmanns Gesicht. »Robust ist eine treffende Umschreibung – ich
weiß, was Sie meinen.« Er hob die Hände und überlegte kurz. »Was Henrik
erzählt, finde ich persönlich allerdings sehr interessant und in einigen
Aspekten durchaus überzeugend.«
»Ja? Geht das konkreter?«
»Natürlich.« Er lehnte sich zurück. »Ich leite mein eigenes
mittelständisches Computer-und Softwareunternehmen und kenne mich mit
Betriebswirtschaft auch ein bisschen aus. Ich weiß, was es heißt, sich am Markt
behaupten zu müssen, Tag für Tag, und ich kann durchaus nachvollziehen, was
Taschner meint, wenn er davon spricht, dass sich unternehmerische Freiheit,
Individualität und Stärke hierzulande ständig beschneiden lassen müssen: von
Gesetzen und Regelungen, von Tarifvereinbarungen, Arbeitnehmerrechten und
Knebelverträgen, die dem Unternehmer das gesamte Risiko aufdrücken.«
Er fasste sich an den Kopf. »Was soll denn zum Beispiel diese
blödsinnige Idee, über die letztens diskutiert wurde, für bestimmte Stellen
anonymisierte Bewerbungen einzuführen? Ich will von Anfang an wissen, mit wem
ich es zu tun habe – Männlein, Weiblein, familiärer Hintergrund und so
weiter. Ist das in meinem eigenen Unternehmen nicht mein gutes Recht? Sie
lassen doch bei sich zu Hause auch nicht jeden in die gute Stube, oder?«
Der Gedanke gefiel ihm, und das Gespräch tat ihm gut. Die Farbe war
in Hildmanns Gesicht zurückgekehrt. Johanna verzog keine Miene.
»Taschner bekommt nicht ohne Grund so viel Beifall«, schloss
Hildmann sein Statement.
»Er versteht ohne Zweifel, den Hebel an den richtigen Stellen anzusetzen«,
erwiderte Johanna vergleichsweise diplomatisch. »Aber Milan vertrat eine andere
Meinung als Henrik.«
»Stimmt. Aber die haben sich häufig gefetzt – schon in der Sandkiste.
Ich habe die Diskussionen nicht so ernst genommen.«
Das war ein Fehler, dachte Johanna.
»Henrik hat in der Tagungsstätte eine Menge Anerkennung bekommen«,
fuhr sie fort. »So schätze ich die Situation ein.«
»Sie meinen – Anerkennung, die ihm zu Hause fehlte?«, fragte
Hildmann.
»Interessante Frage. Beantworten Sie sie mir.«
Er hob die Schultern. »Henrik hat es uns nie leicht gemacht. Er war
häufig verschlossen, mürrisch, abwertend. Erst mit Beginn seiner Ausbildung ist
er zugänglicher und offener geworden. Er hat gute Zensuren gehabt – zum
ersten Mal überhaupt. Henrik hat Selbstbewusstsein entwickelt, und er macht
sich stark für Taschner und seine Firma, das kann man so sagen. Warum auch
nicht? Ich finde das völlig in Ordnung. Er scheint endlich etwas gefunden zu
haben, was seinem Leben eine Richtung gibt.«
Johanna räusperte sich. »Er hatte es nicht leicht neben seinem
charmanten und hochbegabten Bruder?«
»Neben Milan hatte es niemand leicht. Ich kenne keinen, der ihn
nicht gemocht hat. Es gibt solche
Weitere Kostenlose Bücher