Wolfstränen - Roman (German Edition)
Nell! Niemand kann sich sicher sein. Sie verschwand einfach!«
»Haben Sie nie versucht, sie zu finden?«
»Selbstverständlich habe ich das! Aber es dauerte viele Monate, bis ich aus dem Heim fliehen konnte. Bis dahin hatten sich alle Spuren im Schlick verlaufen! Das einzige, was mir blieb, sind Erinnerungen – Herrgott ... sie war noch so jung ... vier Jahre! Ein wunderhübsches blondes Mädchen.«
Meggy nickte Nell zu und hob den Zeigefinger vor die Lippen.
»Sie hatte alles, was ein Kind sich wünschen konnte. Puppen, ein Pony und einen Hund. Das Pony hieß Tramper und der Hund hieß Branko. Ein großer weißer Windhund, eine Seele von Tier. Nur einmal ... dieser düstere Mann, keine zwanzig Jahre alt, aber trotzdem beherrschend und mächtig, dieser Blackhole, besuchte meinen Vater. Er versuchte, Branko zu streicheln und der Hund reagierte sofort aggressiv. Er fletschte die Zähne. Meine kleine Schwester wollte Branko beruhigen und ging dazwischen.«
Nell erschauerte.
Blitzschnell wechselte sie einen Blick mit Meggy. Die schien mit plötzlich völlig nüchtern zu sein.
»Branko war ein Windhund, also ein nervöses Tier. Und er vergaß für eine Sekunde, daß es nicht Blackholes Hand war, die ihn zu beruhigen versuchte, sondern die meiner Schwester. Er schnappte zu und riss ein Stück Fleisch aus Vickys Oberarm. Die Kleine schrie erbärmlich und Blackhole machte sich davon. Es dauerte viele Wochen, bis die Wunde meiner Schwester verheilte. Mein Vater überlegte, Branko zu erschießen, aber die Familie und nicht zuletzt meine Schwester waren dagegen. Es geschah nie wieder so etwas! Zumindest nicht für das bißchen Zeit, das wir noch gemeinsam hatten.«
Nell bekam eine Gänsehaut.
Meggy prallte in ihrem Stuhl zurück. Ihre Augen waren weiße Unterteller.
Bernard blickte auf. Er erwachte aus seinen Erinnerungen.
»Blackhole hat einen Butler ... sein Name ist Drought!«, murmelte Nell. »Dieser vermutet in meinem Leben ein Geheimnis. Und es gibt eines. Ich war mir nie völlig sicher, aber glaube, daß ich nicht das eheliche Kind der Winters bin. Ja, ich heiße Nell Winters. Und doch gibt es Dinge, die vor meinem vierten Lebensjahr liegen. Dinge, über die meine Eltern nie sprachen. Ich befürchtete das Schlimmste, wollte es irgendwann auch nicht mehr wissen. In der heutigen Zeit ist es nicht gut, aus einem schlechten Schoss zu kommen. Es gibt zu viele verlogene Idioten in diesem Land. Zu viele Menschen, die vorschnell verurteilen. Also verdrängte ich meine Fragen. Bin ich die Tochter einer Hure oder einer Drogenkranken? Bin ich die Tochter einer Aussätzigen oder Gehenkten? Ich vermutete immer eines: Ich wurde adoptiert!«
»Und?«, fragte Bernard verständnislos.
»Es gibt Träume, Bernard! Träume von einem Hund, von einem Pony, einem Jungen, der mit mir spielt und von einer blonden Frau! Schöne Träume! Märchenträume, so wie man sie aus Büchern kennt. Romantik! Zuckerwatte! Ich dachte bisher, ich hätte mir diese Träume selber gemacht, sie erfunden ... ausserdem ... blondes Kinderhaar wird manchmal rot.«
»So wird es wohl sein«, knurrte Bernard verständnislos.
Ein strafender Blick aus Meggys Augen traf ihn. Er zog ein langes Gesicht. Er öffnete den Mund und wollte etwas sagen.
»Sag nichts ... nicht jetzt!«, fuhr Meggy dazwischen und klappte den zerfetzten Stoff an Nells Oberarm hoch.
Nell bewegte sich nicht, aber ihre Augen waren weit und glänzend.
Bernard beugte sich vor, hob die Kerze und leuchtete Nells Arm an.
Langsam, sehr langsam ließ er den Leuchter sinken. In seinem Gesicht paarten sich Verstehen und Unglaube. Er fuhr sich durch die Haare und legte die Handfläche vor den Mund. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er Nell an.
Meggy nickte lächelnd.
»Victoria Scofield ...«, murmelte Bernard. »Wenn Gott kein böses Spiel treibt, kann es nicht anders sein.«
»Ja, Bernard.« Nell schluckte hart. »Es kann nur so sein. Ich bin deine verloren geglaubte Schwester!«
Bernard und Nell schoben die Stühle weg.
Sie standen sich gegenüber.
Voller Scheu.
Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Bernard vergaß den Schmerz in seinem Arm, denn ein größerer Schmerz war von ihm genommen.
Nells Herz pochte wie ein Hammer. Endlich öffnete sich das Tor zu ihrer Vergangenheit.
Verlegen streiften Bernards Finger über Nells Haare.
Sie schlang ihre Arme um den Mann.
Er legte seinen Arm um ihre Schulter.
Dann brachen den Dämme. Schluchzend klammerten sie sich aneinander. Sie
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