Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
der Nadel, während sie die Worte ›Bringt Rose Heim‹ auf ein Kissen nach dem anderen stickte. In Lilys Laden war es still, abgesehen von der Spirit-CD in der Stereoanlage. Sie hatte Aurora gewählt, und Jessica spielte die Titelmelodie wieder und wieder. Der Lärm des Schiffsverkehrs und der Seemöwen drang vom Hafen herüber. Während sie die Kissenhüllen zusammennähte, schweiften Marisas Gedanken in ihre Kindheit zurück, als sie auf den Knien ihrer Mutter gesessen und gelernt hatte, ihre Kleidung zu flicken.
»Gut so, mein Schatz«, hatte ihre Mutter noch die schlimmsten, größten Stiche gelobt. »Du hast den Bogen raus!«
Marisa hatte die Zeit, die sie mit ihrer Mutter verbrachte, genossen. Nähen, kochen, gärtnern – egal, was. Sogar Auto fahren – ihre Mutter hatte sie schon mit zwölf den orangefarbenen Volvo steuern lassen, wenn sie in die Sackgasse, in der sie wohnten, hinein- und hinausfuhren. Alle ihre Freundinnen hatten sie darum glühend beneidet.
Ihre Mutter hatte ihr beigebracht, einen Wagen mit Gangschaltung zu fahren, Rosen direkt unterhalb der neuen Triebe zu beschneiden, an alten Rosenbüschen nach drei- und fünfblättrigen Knospen Ausschau zu halten, orangefarbene Taglilien umzupflanzen, Efeu zurückzuschneiden, wildwachsende Brombeeren zu finden und sich von Schwänen fernzuhalten – die zwar schön und anmutig, aber auch sehr aggressiv waren und auf Menschen losgingen.
Marisa hatte zwar gelernt, sich vor Schwänen zu schützen, nicht aber vor Männern, die Süßholz raspelten und einer Frau den Kopf verdrehten. Männern wie Ted. Sie blickte zu Jessica hinüber, die am anderen Ende des Raumes saß. Heute waren sie an der Reihe, in Lilys Laden zu arbeiten, ein Dienst, den die Nanouks abwechselnd übernahmen. Er sollte geöffnet bleiben – damit das Geschäft florierte und Lily sich keine Sorgen über ihre Einkünfte machen musste, wenn sie mit Rose aus der Klinik zurückkam.
Anne, die bis zu Lilys Rückkehr die Buchhaltung von In Stitches übernommen hatte, sollte allen auf Lilys Geheiß ein Entgelt für ihre Arbeit bezahlen. Die meisten Nanouks lehnten dankend ab – sie spendeten das Geld, ließen es umgehend in das Kiefernnadelkissen-Projekt zurückfließen –, für Marisa gleichwohl ein Luxus, den sie sich nicht leisten konnte.
Der Auszug aus der ehelichen Wohngemeinschaft hatte sich als finanzielle Härte erwiesen. So sorgfältig die Flucht auch geplant war, mit solchen Schwierigkeiten hatte sie nicht gerechnet. Sie hatte sich an die Ratschläge gehalten, die auf rund einem Dutzend Websites über häusliche Gewalt erteilt wurden: Sie hatte sich bemüht, sich nichts anmerken zu lassen, damit Ted keinen Verdacht schöpfte, hatte Geld in einer Dose im Kühlschrank versteckt, in der sich angeblich gefrorener Orangensaft befand, hatte begonnen, die Konten abzuräumen und immer wieder kleinere Beträge vom Erlös des Hausverkaufs abzuzweigen.
Er hatte sie dazu gebracht, ihm die Vollmacht über viele ihrer Finanzinvestitionen zu erteilen, einschließlich des Fonds bei der Anlagefirma, für die er arbeitete – dem United Bankers Trust. Dort hatte sie die gesamte Rente angelegt, die ihr nach dem Tod ihres ersten Mannes zugeflossen war, und die Erbschaft von ihrem Vater. Ted hatte ein Riesenbrimborium gemacht und beteuert, er wolle ihr helfen, das Geld geschickt anzulegen – »damit ihr ein für alle Mal ausgesorgt habt«.
Mit ›ihr‹ waren Marisa und Jessica gemeint. Wie fürsorglich das alles geklungen hatte – obwohl er sie in Wirklichkeit nur benutzt hatte. Je länger Marisa von ihm getrennt war, desto klarer wurde ihr Blick. Wie war es nur möglich gewesen, dass ihr noch vor wenigen Monaten – kurz nach ihrer Flucht – leise Zweifel an ihrer Entscheidung gekommen waren, sie sich sogar nach ihm gesehnt hatte? Nach dem Gefühl, seine Arme um ihre Schultern zu spüren?
Er hatte zwei Gesichter, wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Er konnte unterhaltsam und zärtlich sein, doch seine Stimmung schlug bisweilen unverhofft um – wie ein Unwetter, das plötzlich an einem strahlenden Sommertag heraufzog. Seine Launenhaftigkeit hatte Jessica und sie aus dem Lot gebracht.
Während sie ›Lonesome Daughter‹ von den Spirits lauschte, betrachtete sie Jessica und fragte sich, wie lange sie diese Scharade noch aufrechterhalten mussten. Bei dem Gedanken, dass Lily in Boston weilte, in Neu-England, verspürte sie Heimweh. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, ihre Tochter in
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