Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
die Außenlampen, und die gelbe Gießkanne stand angestrahlt neben dem von Rosen überwachsenen Laubengang. Sie öffnete die Fliegengittertür und ließ ihn herein.
»Hallo, Maeve. Danke, dass ich so spät noch kommen durfte.«
»Guten Abend, Patrick. Clara und ich trinken gerade Tee und spielen Karten.«
»Tut mir leid, dass ich störe. Hallo, Clara.«
Clara hatte ihm bereits Tee eingeschenkt und reichte ihm die Tasse, als er das Wohnzimmer betrat. Maeve spürte, dass sie schwankte, offenbar war sie heute ein wenig unsicher auf den Beinen. Sie versuchte, Halt zu gewinnen, ohne dass die anderen etwas bemerkten. An Sommerabenden wie diesem, wenn die Sterne am Himmel über dem Long Island Sund aufgingen und unerwartet Besuch vor der Tür stand, hatte sie nie ganz umhinkönnen, sich zu wünschen, es wäre Mara. Sie sah, dass Patrick gespannt wartete, und holte die Tasche.
»Ist sie das?«, fragte er.
Sie reichte ihm die glänzende Tasche und nickte.
»Er hat sie letzte Woche höchstpersönlich vorbeigebracht!«, sagte Clara. »Der Kerl hat Nerven, einfach so in Maeves Garten aufzukreuzen.«
»Nerven wie Drahtseile«, bestätigte Patrick. »Die hatte er schon immer. Darf ich einen Blick hineinwerfen?«
»Gewiss.« Maeve räumte den Kartentisch leer, und Patrick breitete den Inhalt der Tasche darauf aus. Sie hatte bereits alles in Augenschein genommen, Stück für Stück, genau wie die Polizei damals. Patrick eingeschlossen.
»Mal sehen, was wir da haben«, sagte er. »Telefonbuch, Autoschlüssel, silberner Kugelschreiber, ein kleines ledernes Nähetui … das kennen wir alles. Er hat sich die Mühe gemacht, Ihnen die Sachen zu bringen – warum?«
»Weil er mit mir sprechen wollte«, sagte Maeve. »Aber aus einem anderen Grund. Die Tasche war nur ein Vorwand.«
»Aus welchem anderen Grund?«
»Um herauszufinden, ob ich ihn hasse. Edward konnte es nie ertragen, abgelehnt zu werden. Er hat das Bedürfnis, sich überall lieb Kind zu machen – das ist sein ganzer Daseinszweck. Selbst wenn er sich damit nur beweisen möchte, dass er jeden um den Finger wickeln kann.«
»Ein Vertreter der übelsten Sorte, der sich einschleimt, um einem weiß Gott was zu verkaufen«, warf Clara ein. »Damals ist mir das nicht aufgefallen. Aber jetzt schon. Ich begreife nicht, wie sich unsere Mara in ihn verlieben konnte.«
»Sie ist auf seine Mitleidstour hereingefallen«, sagte Maeve. »Edward hat ihr die traurige Geschichte vom Pechvogel aufgetischt, der es schwer im Leben hatte.«
»Aber das ist lange her«, warf Clara ein, die immer noch nicht begriff. »Mag sein, dass er eine trostlose Kindheit hatte. Aber was hätte Mara im Nachhinein dagegen tun können? Oder Edward selbst, der ja inzwischen ein erwachsener Mann war?«
Patrick schien nicht zuzuhören, sondern vertieft darin zu sein, die restlichen Gegenstände in der Reisetasche durchzugehen: ein Gedichtband von Yeats, ein Buch von Johnny Moore und eine Sammlung von Zeitungsausschnitten über den Tod von Maras Eltern.
»Die Vergangenheit lässt sich nicht ändern«, meldete er sich nun zu Wort. »Aber Männer wie Edward schlagen Kapital aus ihrer verkorksten Kindheit. Sie dient dazu, Mitleid zu wecken, wie Maeve schon sagte.«
»Maras einziger Fehler bestand darin, ihn am Ende zu durchschauen«, sagte Maeve.
»Hat Edward Ihnen deshalb einen Besuch abgestattet? Um herauszufinden, ob Sie ihn ebenfalls durchschaut haben?«
»Dessen bin ich mir sicher. Er brüstete sich mit seinem Erfolg als Aktienhändler. Er geht subtil vor – versucht mich mit seinem versteckten Hohn zu provozieren. Er weiß, dass ich ihm auf die Schliche gekommen bin, aber nichts gegen ihn ausrichten kann.«
»Wie passt Kanada in dieses Bild?«, fragte Patrick. »Das kapiere ich nicht ganz.«
»Steht alles in diesem Artikel.« Maeve trennte einen vergilbten Zeitungsausschnitt vom Rest. Während sie Patrick beim Lesen zusah, verspürte sie abermals einen leisen Anflug von Übelkeit.
Maras Eltern waren in Irland ums Leben gekommen, bei einem Fährunglück, das Schlagzeilen machte. Als Teenager hatte Mara an mehrere irische Tageszeitungen geschrieben und um Zusendung der Zeitungsausschnitte gebeten. Maeves Herz klopfte zum Zerspringen, während sie Patricks Mienenspiel beobachtete. Sie war gespannt, wie er reagieren würde – ob er einen Zusammenhang zwischen der Zeitungsmeldung und den anderen Hinweisen sah.
»Die Bewohner von Ard na Mara …«, las Patrick. »Was ist Ard na
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